Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Ein Alltags-Magnet
Das Holocaust-Mahnmal in Berlin erschließt sich nicht jedem, aber es ist fester Bestandteil von Stadtarchitektur, Gedenken und Sightseeing geworden.
holt das gigantische Verbrechen der Judenvernichtung durch das nationalsozialistische Regime in den aktuellen Alltag. Und zwar sehr abstrakt, damit jeder seine eigenen Gedanken findet. Ins „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“schlendert der Besucher eher beiläufig hinein, kann nach wenigen Metern aus dem Tritt kommen, noch einmal die Sache scheinbar überblicken und dann so tief drinstecken, dass die Stelen ihn fast zu erschlagen drohen. Der Weg nach Ein Besucher des Mahnmals draußen scheint überall einfach zu sein, doch beim Hinausgehen ist er schief, steil und führt plötzlich doch wieder hinunter.
„Nee!“, sagt ein Mann angewidert: „Das ist doch nix fürs Auge!“Sein Freund ordnet den Rückzug an: „Los, raus hier.“DeutscheStimmen sind an diesem Vortag des Holocaust-Gedenktages in der Minderheit. Spanier, Briten, Polen, Franzosen, Russen überwiegen. Das Mahnmal ist fester Bestandteil der Sightseeing-Touren.
„Es ist nicht gestattet, von Stele zu Stele zu springen“, steht eher verschämt als „Besucherordnung“auf einer in den Boden eingelassenen Steinplatte. Niemand sieht es. Und auch ein Faltblatt mit der Vorschrift, nicht auf die Stelen zu klettern, findet sich nur an einer Stelle. Es gibt keinen Eingang, es gibt Hunderte: Jeder hat von überall freien Zugang zum 19.000 Quadratmeter großen Feld. Wenige Meter von der Vorschrift macht eine junge Portugiesin ein Handyfoto von ihrem Freund, der auf einer großen Stele posiert. Ein Mitarbeiter vom Wachschutz bittet ihn freundlich herunter. Gleichzeitig beginnen an drei anderen Stellen des Mahnmals Jugendliche neue Klettertouren.
Mittendrin ärgert sich Sandra Volkmann aus dem pfälzischen Winnweiler über Kinder, die lärmend und lachend festgetretenen Schnee auf den abschüssigen Wegen zum Schlittern nutzen: Mahnmal mit Rutschbahneffekt. Zwei Jungs kreischen vor Vergnügen. „Verletzend“findet Volkmann dieses Verhalten gegenüber den Familien der Ermordeten. Fiona Szengel aus Kaiserslautern nickt: Wer einmal hineingegangen sei, findet sie, könne sich inmitten des dunklen, bedrohlich großen Betons „gut vorstellen, wie ausweglos die Situation den Betroffenen damals erschienen sein muss“.
Weitere Busse halten, in Pulks dringen große Gruppen von Menschen in das Feld ein. Auf dem Weg zum Flieger machen Touristen Rast im Mahnmal. Einer liegt ausgestreckt auf einer Stele, den Koffer neben sich. Seine Begleiterin hat einen Stadtplan auf der Nachbarstele auseinandergefaltet. Fotografieren. Liegen. Gehen. Rennen. Verstecken. Rufen. Lachen. Wenn Eisenman den Alltag ins Mahnmal holen wollte – hier ist er. Alle paar Minuten neu. „Lass uns versuchen, zusammenzubleiben“, ruft eine Mutter mit Säugling auf dem Rücken ihren beiden kleinen Jungs hinterher. Sekunden später sind sie weg. HolocaustMahnmal, das kleine FamilienAbenteuer für zwischendurch.
Wer mehr wissen will, kann sich ein paar Minuten anstellen und dann unter das Mahnmal gehen, in den „Ort der Information“. Was draußen abstrakt ist, wird drinnen konkret. So sehr, dass der Holocaust und seine Opfer nach Namen und Wohnort recherchierbar sind. Millionen digitalisierte Schicksale. Meistens betreffen sie auch die eigene Nachbarschaft, von wo auch immer die Besucher kommen.
„Ein richtiges Gefühl kommt nicht auf“, sagt Brigitte Striegler nach dem Gang durchs Mahnmal. „Wir rätseln noch“, ergänzt ihr Mann Bernd. „Stehen die Stelen für Grabsteine?“, fragen sie sich. Da sei der alte jüdische Friedhof in Prag, den die beiden vor zwei Wochen besuchten, schon eindrucksvoller gewesen. Für das Mahnmal fehlt den beiden Sachsen eine Gebrauchsanweisung. Vor allem rätseln sie, wofür die Zahl der 2711 Betonquader steht. Eisenman sagt: nichts Symbolisches. Wieder werden Selfie-Sticks ausgefahren. Lächeln und klick.
2711 – vermutlich ist das die Zahl der inzwischen durchschnittlich pro Stunde entstehenden Handyfotos.
„Nee! Das ist doch nix fürs Auge“