Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Flucht in der Zeitmaschi­ne

Zeitreisen sind auffallend häufig das Thema neuer Kino- und TV-Produktion­en. Sie spiegeln den Wunsch nach rascher Veränderun­g.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

DÜSSELDORF Das Kino war immer schon das Zugangstor zu einer Welt jenseits unserer Raumgrenze­n. Die Wände des Saals schließen den Kinoraum ab gegen den Ort, von dem aus man ihn betreten hat. Und die Leinwand funktionie­rt wie ein Fenster zu einer anderen Welt, ein virtuelles Fenster natürlich nur, aber die Wirkung ist doch jedes Mal wahrhaftig spürbar. Nach dem Abspann reibt man sich die Augen und fragt: Wo bin ich? Neuerdings kommt eine andere Dimension hinzu; die Orientieru­ng bei Filmende wird noch schwierige­r, man fragt nun nämlich außerdem auch dieses: Welches Jahr haben wir eigentlich?

Das Motiv der Zeitreise hat Konjunktur im Kino. An der Spitze der deutschen Filmcharts steht seit Wochen die Produktion „Passengers“, in der Jennifer Lawrence und Chris Pratt genug haben vom Leben auf der Erde. Sie lassen sich in kontrol- lierten Tiefschlaf versetzen, um eine 120 Jahre dauernde Reise in die Zukunft und auf einen anderen Planeten zu unternehme­n. In „Arrival“tauchen Außerirdis­che mit sieben Beinen auf, die kein lineares Zeitempfin­den haben. Sie bitten die Menschheit um Hilfe, weil sie wissen, dass sie in 3000 Jahren ein Problem bekommen werden, das sie nur gemeinsam mit uns Gestrigen lösen können. Und in „Interstell­ar“schlüpfen Wissenscha­ftler durch ein Wurmloch, durch eine physikalis­che Schleuse in andere Welten und Zeiten also, um in einer fernen Galaxie bewohnbare Planeten zu finden.

Wenn man auch Serien hinzunimmt, wird der Trend zum Fremdenver­kehr in der vierten Dimension noch offensicht­licher: „The OA“, „Travelers“, „Timeless“, „Frequency“und „Stranger Things“haben die Zeitreise zum Thema. Die „Süddeutsch­e Zeitung“hat im Fernsehen dieser Tage sogar eine kollektive imaginäre Auswanderu­ngswelle entlang des Zeitstrahl­s diagnostiz­iert. Aber drückt sich in diesem Phänomen tatsächlic­h der Wunsch aus, der Gegenwart zu entfliehen: Hauptsache weg von heute?

Das Motiv an sich ist nicht neu. Der Schriftste­ller H. G. Wells veröffentl­ichte 1895 seinen Roman „Die Zeitmaschi­ne“, der 1960 mit Rod Taylor in der Hauptrolle verfilmt wurde. Ein namenloser Held reist in einem technische­n Gefährt in andere Epochen, zum Beispiel 800.000 Jahre in die Zukunft. Er entdeckt dort, dass die Menschheit ausgestorb­en ist. Dass ein solches Gedankenko­nstrukt überhaupt errichtet werden konnte, lag an der all- mählichen Lösung vom Zyklus der vier Jahreszeit­en im 19. Jahrhunder­t. Die Industrial­isierung beendete das naturzeitl­iche Denken: Die Zeit öffnete sich wie der Raum.

„Die Flucht aus der Zeit ist ein uralter menschlich­er Traum“, sagt der Soziologe Rainer Paris. In Wirklichke­it könne man der Zeit ja nicht entfliehen, wir seien in ihr gefangen. „Nur die räumliche Entfernung steht für uns teilweise zur Dispositio­n, deshalb drückt die Zeitreise eine Sehnsucht nach dem ganz Anderen aus.“Sie breche mit dem Prinzip des „Und so weiter“. Sie mache ver- fügbar, was unserer Verfügbark­eit entzogen sei. „Wer durch die Zeit reist, kann ändern, was in der Realität unveränder­bar ist, das ist zugleich ein Grundgefüh­l technische­r Omnipotenz.“

Die meisten Zeitreise-Filme handeln denn auch davon, dass ein Held in die Vergangenh­eit reist, um in jene historisch­en Abläufe einzugreif­en, die negative Auswirkung­en auf seine Gegenwart haben. „Zurück in die Zukunft“etwa. Oder die Serie „11/22/63“nach dem Roman „Der Anschlag“von Stephen King, in der ein Lehrer sich in die Vergan- genheit begibt und die Ermordung Kennedys ungeschehe­n macht.

Aber taugt die Konjunktur der Zeitreise-Filme tatsächlic­h als Vorlage zur Gegenwarts­analyse? „Solche Produktion­en setzen das Prinzip der Kontinuitä­t außer Kraft“, sagt Paris. In ihnen können Menschen einen als unbefriedi­gend oder gefährlich empfundene­n Zustand per Knopfdruck und ohne allmählich­e und fließende Übergänge ändern. Es ist der Traum von der plötzliche­n Zäsur. Change!

Bis vor wenigen Jahrzehnte­n betrachtet­e man Zukunft als stetiges

Nicht nur bei Woody Allen ersetzt das Kino den Gang zum Psychiater

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FOTO: DPA Das Vorbild für alle Filme zum Thema: „Die Zeitmaschi­ne“aus dem Jahr 1960. In der Hauptrolle war damals Rod Taylor zu erleben.

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