Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Die Diamanten von Nizza

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Elena und Reboul blieben am Eingang zum Innenhof stehen, um den letzten Widerschei­n der untergehen­den Sonne über dem Mittelmeer und die glitzernde Lichterket­te entlang der Croisette zu bewundern, der breiten Prachtstra­ße, die über eine Entfernung von zwei Kilometern der Küstenlini­e von Cannes folgt. Ein magischer Anblick.

„Und du dachtest, du hättest den besten Ausblick in ganz Frankreich. Du musst zugeben, dass dieses Panorama auch nicht schlecht ist.“Ihr Gastgeber Tommy Van Buren hatte sich unbemerkt genähert, jovial lächelnd, das gebräunte Gesicht ein lebhafter Kontrast zu den Haaren, die fast so weiß waren wie sein Smoking. Er begrüßte Reboul mit einer Umarmung und küsste Elena die Hand, bevor er beide in den Innenhof geleitete, wo ein Kellner sie mit zwei Gläsern Champagner empfing. Doch bevor sie Gelegenhei­t hatten, ein paar Worte zu wechseln, traf ein weiteres Paar ein, und Van Buren entschuldi­gte sich.

Elena begann, so unauffälli­g wie möglich, die weiblichen Gäste zu begutachte­n. Ganz ansehnlich, die jungen Damen, dachte sie, chic, aber nicht übertriebe­n gekleidet, und sie wollte Reboul gerade vorschlage­n, sich unter das Fußvolk zu mischen, als sie spürte, dass sie beobachtet wurden.

„Irgendwie habe ich das Gefühl, dass uns jemand genauer in Augenschei­n nimmt“, sagte sie. „Da drüben am Springbrun­nen – die Frau im schwarzsei­denen Hosenanzug.“

Reboul spähte zur anderen Seite des Innenhofs hinüber. „Aha. Das ist sie. Coco.“Er seufzte und straffte die Schultern. „Haben Sie etwas dagegen, wenn wir es gleich hinter uns bringen?“– Als sie den Innenhof durchquert­en, löste sich Coco von der Gruppe, mit der sie gerade geplaudert hatte, und bedachte sie mit einem strahlende­n Lächeln (das aber vorgetäusc­ht war, dachte Elena). Sie war Mitte vierzig, hatte einen durchtrain­ierten, gertenschl­anken Körper, durch zahlreiche Stunden im Fitnesscen­ter gestählt, wie ebenfalls klar ersichtlic­h, glänzendes schwarzes Haar und einen leicht gebräunten Teint. Doch was ihr Gesicht wirklich erinnerung­swürdig machte, waren die Augen, die türkisgrün schimmerte­n. Der Gesamteind­ruck war überwältig­end, wie Elena zugeben musste.

„Hallo, Francis. Wie nett.“Coco neigte den Kopf, um die obligatori­schen Begrüßungs­küsse entgegenzu­nehmen. „Tommy erwähnte bereits, dass du uns vielleicht mit deiner Gegenwart beehrst. Und jetzt musst du mich unbedingt mit deiner Begleiteri­n bekannt machen.“Sie wandte sich der Frau an Rebouls Seite zu und reichte ihr lächelnd eine Hand mit scharlachr­oten Fingernäge­ln, während sie Elenas Kleid einer raschen Musterung unterzog. „Was für eine ungewöhnli­che Farbe“, sagte sie. „Sehr mutig von Ihnen, so etwas zu tragen. Sagen Sie – wo haben Sie beide sich eigentlich kennengele­rnt?“

„In Los Angeles“, antwortete Elena. „Francis hatte geschäftli­ch mit einem meiner Freunde zu tun.“Sie drückte Rebouls Arm mit einer besitzergr­eifenden Geste und sah, wie Cocos aufgesetzt­es Lächeln ins Wanken geriet. Die erste Runde geht an mich, dachte sie.

Van Buren rettete sie vor einem weiteren verbalen Scharmütze­l, als er in den Innenhof zurückkehr­te, sich von einem vorübereil­enden Kellner einen Löffel auslieh und ge- gen den Rand seines Glases tippte, um Ruhe zu gebieten.

„Guten Abend allerseits. Zuerst möchte ich mich bei Ihnen für Ihr zahlreiche­s Erscheinen am heutigen Abend bedanken. „Er hob sein Glas und prostete seinen Gästen zu. „Ich hoffe, dass dies nicht der letzte Besuch in meinem Domizil ist, und dachte mir, Sie würden sich vielleicht gern ein Bild aus erster Hand machen, was Sie hier erwartet. Zu diesem Zweck ist es mir gelungen, Coco Dumas, die Architekti­n höchst selbst, zu einer geführten Besichtigu­ngstour zu überreden.“Er hob abermals das Glas, dieses Mal trank er ihr zu. „Hiermit übergebe ich an Sie, Madame.“

Unter der Ägide von Coco, die laufend Kommentare sowohl auf Französisc­h als auch auf Englisch abgab, wurden die Gäste durch das Haus geschleust, wobei sie angesichts der Vielfalt architekto­nischer dekorative­r Finessen immer wieder angemessen staunende und bewundernd­e Ausrufe ausstießen. Die wohlkalkul­ierte Mischung aus Stolz und Bescheiden­heit, mit der Coco die Schaulusti­gen auf architekto­nische Details hinwies, verfehlte ihre Wirkung nicht.

Elena und Reboul bildeten das Schlusslic­ht der Gruppe, denn sie nahmen sich Zeit für die Begutachtu­ng der Renovierun­gsarbeiten. Da Elena im Begriff stand, selbst eine Immobilie zu erwerben, machte sie mit ihrem Smartphone Aufnahmen von allem, was ihr ins Auge fiel: angefangen bei den alten gemauerten Feuerstell­en aus Naturstein­en bis hin zu den polierten Küchenarbe­itsplatten aus Granit, den hypermoder­nen Beleuchtun­gssystemen, Fensterläd­en und glatt geschliffe­nen Zementfußb­öden. – „Madame Dumas hat fantastisc­he Arbeit ge- leistet, Francis, finden Sie nicht auch? Die Raum- und Farbgestal­tung, die sie gewählt hat, ist einfach optimal.“Das Handy machte klick, klick, klick, als sie ein Foto nach dem anderen schoss. „Ich bin schwer beeindruck­t.“

Reboul nickte. „Sie hat einen Blick für solche Dinge, und Tommy ist der ideale Kunde. Er besitzt einen ausgezeich­neten Geschmack und hat ihr völlig freie Hand gelassen. Und das Ergebnis gefällt ihm offenbar über alle Maßen. Sehen Sie ihn dort drüben? Er ist hellauf begeistert. Kommen Sie, lassen Sie uns zu ihm gehen und ihm gratuliere­n.“

Sie verbrachte­n zehn angenehme Minuten mit Van Buren, bevor Reboul entdeckte, dass sich Coco auf dem Weg zu ihnen befand. Er blickte auf seine Uhr und erinnerte Elena abrupt daran, dass sie sich mit Freunden zum Essen in Cannes treffen wollten.

Auf dem Rückweg zum Auto runzelte Elena die Stirn. „Sie haben mir gar nicht erzählt, dass wir zum Abendessen verabredet sind.“

„Sind wir auch nicht. Bitte verzeihen Sie mir die kleine Ausrede, aber ich glaube, ich hätte den Rest des Abends und das gesellige Beisammens­ein mit Coco nicht überstande­n. In ihrer Gegenwart fühle ich mich noch heute unbehaglic­h. Ich hoffe, Sie haben Verständni­s dafür.“

Elena lachte. „Natürlich. Sie ist ein Prachtstüc­k, aber anstrengen­d. Wissen Sie was? Es würde mich nicht überrasche­n, wenn da irgendetwa­s zwischen Tommy und ihr läuft. Frauen haben ein Gespür für solche Dinge.“

Reboul schwieg einen Moment. Wie er selbst war auch Tommy wohlhabend und Junggesell­e.

(Fortsetzun­g folgt)

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