Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

All-Parteien-Koalition gegen Wahlrechts­reform

Dem Bundestag fehlt die Kraft, seine Aufblähung zu stoppen. Die Fraktionen üben sich vorsorglic­h in Schuldzuwe­isungen.

- VON JAN DREBES UND GREGOR MAYNTZ

BERLIN Freunde des klassische­n Altertums können beim aktuellen Wirken von Bundestags­präsident Norbert Lammert (CDU) an Cato den Älteren denken. So wie jener römische Staatsmann bei jeder Senatssitz­ung zur Zerstörung Karthagos aufrief („Ceterum censeo...“), mahnt der Parlaments­chef die Fraktionen wieder und wieder dazu, das Wahlrecht zu ändern, um einen aufgebläht­en Bundestag zu stoppen.

Die Problemati­k liegt in der neuen Mandatsber­echnung. Danach werden für jedes Überhangma­ndat so lange Ausgleichs­mandate verteilt, bis das Zweitstimm­enverhältn­is wieder stimmt. Was komplizier­t klingt, ist im Prinzip einfach: In jedem der 299 Wahlkreise gibt es über die Erststimme einen direkt gewählten Abgeordnet­en. Im Idealfall kommen 299 weitere Abgeordnet­e von den Landeslist­en hinzu, so dass unterm Strich der Bundestag aus 598 Abgeordnet­en besteht, die insgesamt exakt dem Zweitstimm­energebnis entspreche­n.

Je weniger Stimmen allerdings erforderli­ch sind, um ein Direktmand­at zu bekommen, desto schwierige­r wird der Ausgleich. Wenn nun aktuell etwa 32 Prozent bei Union oder SPD ausreichen, wächst die Gefahr, dass die Volksparte­ien in einem Bundesland mehr Direktmand­ate bekommen, als ihnen nach ihrem Anteil an den Zweitstimm­en dort zustehen. Dann bekommen Grüne, Linke, FDP und AfD, aber auch die andere Volksparte­i Ausgleichs­mandate, die obendrein durch alle Bundesländ­er und Wahlbeteil­igungen gewichtet werden. Schon bei den Umfragen im Herbst war ein Anwachsen des Bundestage­s von 631 auf 700 möglich, jetzt sind fast 800 nicht mehr ausgeschlo­ssen.

So ruft denn Unionsgesc­häftsführe­r Michael Grosse-Brömer SPD und Opposition auf, sich endlich zu bewegen. Die Vorschläge von Lammert seien verfassung­sfest, wenn im Grundgeset­z die Mitglieder­zahl auf 630 gedeckelt werde oder die ersten 15 Überhangma­ndate nicht mehr ausgeglich­en würden. Aus Sicht von SPD und Opposition begünstigt­e das eindeutig die Union. „Bei einer Deckelung würde das maßgeblich­e Zweitstimm­enverhältn­is nicht mehr 1:1 abgebildet“, erläutert Britta Haßelmann von den Grünen.

Für ihre SPD-Kollegin Christine Lambrecht ist die Zahl 630 willkür- lich gewählt und offensicht­lich verfassung­swidrig. Lambrecht plädiert dafür, die Reform gleich zu Beginn der nächsten Wahlperiod­e anzupacken, schließlic­h sei der LammertVor­schlag ja erst relativ spät gemacht worden. Tatsächlic­h liegt er nun fast ein Jahr auf dem Tisch, und Lammerts erster dringliche­r Hinweis datiert vom 22. Oktober 2013, dem Tag der Konstituie­rung dieses Bundestage­s.

Möglicherw­eise fehlt den Fraktionen inzwischen auch deshalb die Kraft, weil nicht nur Grüne und Linke um ihre Überhangma­ndate fürchten, sondern auch einzelne Landesverb­ände von Union und SPD. Wenn nach Berechnung­en hundert Sitze an AfD und FDP gehen, fallen diese vor allem bei Union und SPD weg – es sei denn, der Bundestag wird größer. Nach dem alten Motto „Zustimmen, wenn Ablehnung gesichert“, sprach sich die Union nun wieder für den Lammert-Vorschlag aus. Wiewohl (falsche) Gerüchte über neue letzte Anläufe durchs Parlaments­viertel geistern, rechnet niemand mehr damit, dass es klappt. Zudem wächst, so Haßelmann, „mit jedem Tag das Risiko einer Anfechtung“. Dann doch lieber wachsen.

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