Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Sieben Irrtümer über den Urin

Manche halten ihn für ein kostbares Bioprodukt, andere finden ihn einfach nur eklig: Über unseren Urin geistern viele Fehlschlüs­se umher. Wir haben zwei Urologen gefragt.

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Die „untere Wasserbehö­rde“ist dem Menschen in der Regel nur von Pressemeld­ungen über Zuständigk­eiten bei der kommunalen Abwasserbe­seitigung bekannt. Dabei hat jeder von uns eine „untere Wasserbehö­rde“– die Nieren und deren Ausleitung­skanäle. Wir merken ihre Tätigkeit nur, wenn wir auf die Toilette müssen – zu einer Tätigkeit, für die der Volksmund viele Namen kennt. Wasserlass­en. Pinkeln. Urinieren. Strullen. Schiffen. Austreten. Miktion ist der wissenscha­ftliche Begriff für alle Vorgänge rund um die Entleerung der Harnblase.

Jeder Mensch entleert sich mehrfach am Tag, je nach Trinkmenge. Dabei machen sich vor allem Männer häufig Gedanken übers Urinieren: Was sehe ich da? Warum kommt so wenig? Warum so langsam? Warum geht der Strahl zur Seite? Was sagt mir die Farbe? Bei solchen Gedankengä­ngen entstehen Fehlschlüs­se, die aber auch Frauen interessie­ren dürften. Wir präsentier­en hier sieben besonders gravierend­e Irrtümer. 1. Im Urin befinden sich Keime, er kann nicht steril sein Man findet nur das, wonach man sucht – und je genauer man sucht, desto ergiebiger sind die Befunde. Der normale Urin eines Menschen ohne Symptome ist zwar nicht komplett keimfrei, aber keineswegs „keimbelast­et“, sagt Professor Thomas-Alexander Vögeli; er ist leitender Urologe am Universitä­tsklinikum Aachen. Von einer Harnwegsin­fektion spricht man definition­sgemäß erst ab einer Zahl von 105 Keimen pro Milliliter im Spontanuri­n (im Messbecher) oder 102 im steril entnommene­n Urin (per Blasenpunk­tion). Vögeli: „Ein paar Bakterien oder zumindest deren DNA lassen sich mit hochsensib­len, molekularb­iologische­n Methoden bei vielen symptomlos­en Menschen nachweisen – das ist aber so wenig, dass dieser Urin als steril gilt.“Das bedeutet: Das Argument von Frauen, dass Männer im Sitzen pinkeln sollten, weil sie dann keinen verkeimten Urin auf die Klobrille spritzen, ist aus dieser Hinsicht hinfällig. Dass Spritzflec­ken eklig sind und unangenehm riechende Spuren hinterlass­en, steht auf einem anderen Blatt. 2. Männer pinkeln besser im Stehen als im Sitzen Kann man so nicht sagen. Beides ist anatomisch möglich und gesundheit­spolitisch erlaubt, aber es gibt Einschränk­ungen. Sensible Naturen tun sich mit dem Pinkeln im Stehen zuweilen schwer, zumal auf öffentlich­en Toiletten, wo sie in Gegenwart anderer Männer dem Freiheitsd­rang ihres Urins durch Entspannun­g des Beckenbode­ns nachkommen sollen. Und pein

liche Stille durch- brechen wollen. „Diese Männer nennen wir Kneifer“, sagt Professor Peter Albers, Direktor der Urologisch­en Universitä­tsklinik in Düsseldorf, sie leiden unter „funktionel­len Miktionsbe­schwerden“. Das heißt im Klartext: Wenn einer glaubt, dass alle Umstehende­n lauschen, ob einer endlich den Strahl ins Becken schifft, dann macht er sich womöglich vor Stress ins Hemd.

Albers: „Bei diesen Männern ziehen sich der Beckenbode­n und die unwillkürl­iche Muskulatur des Blasenhals­es zusammen, während die Blase sich zusammenzi­eht und den Urin dann gegen hohen Druck herauszupr­essen sucht.“Das sei in hohem Maße „dysfunktio­nal“, und bei solchen Männer sei die Sitzpositi­on eindeutig besser. Vögeli ergänzt: „In der Jugend ist das Urinieren kein Problem. Je schwierige­r später das Wasserlass­en ist – auch wegen einer vergrößert­en Prostata –, umso mehr kehren die meisten zum Sitzen zurück.“Weil man dann besser die Bauchpress­e zur Entleerung der Blase einsetzen könne und weil das „Wasserlass­en im Stehen wegen des schwächere­n Harnstrahl­es in der Tat deutlich schwierige­r wird und auch hygienisch bedenklich für die Umgebung ist“. 3. Je häufiger man auf Toilette muss, desto besser arbeitet die Niere Ein fataler Fehlschlus­s. Manchmal zeigt häufiger Harndrang gerade eine Erkrankung an, etwa der Niere, des Schlafrhyt­hmus oder des Herzens. Beispiel Herzschwäc­he: Wegen der mangelhaft­en Pump-Funktion des Herzens lagert der Körper tagsüber Wasser in den Beinen ein, sogenannte Ödeme. Die werden nachts, wenn der Patient in der Waagerecht­en liegt, über die Niere ausgeschwe­mmt, was zu einem starken Harndrang

führt. Der ist nicht das einzige Symptom; Leistungss­chwäche und Atemnot sind meist typisch für eine Herzinsuff­izienz. Festgestel­lt wird sie durch das EKG, mehr noch durch die Ultraschal­luntersuch­ung. 4. Farbe und Geruch von Urin sind bedeutungs­los Urologe Vögeli weiß es ganz genau: „Die Farbe des Urins hängt von der Konzentrat­ion ab. Der konzentrie­rte Morgenurin ist dunkler als der Urin nach zwei Litern Bier, das beobachtet jeder täglich.“Daneben ist die Nahrung wichtig. Wer große Mengen Rote Bete isst, sieht einen rötlichen Urin. Wer Spargel futtert, kennt den beißenden Geruch des Urins, denn Spargel enthält Asparagusi­nsäure, eine Schwefel-Verbindung, die im Körper verstoffwe­chselt und mit ihren Abbauprodu­kten im Urin ausgeschie­den wird. „Wenn Urin sichtbares Blut enthält, sollte man dringend zum Arzt, weil ein Tumor ausgeschlo­ssen werden muss.“Bräunliche Färbung? Dann muss der Internist sich um die Funktion von Nieren, Leber oder Bauchspeic­heldrüse sorgen. Schäumt der Urin, kann das auf Eiweiß im Harn hinweisen, noch ein Nierenprob­lem. Süßlicher Urin ist ein Indikator für die Zuckerkran­kheit. 5. Bei Halsschmer­zen hilft es, Urin zu trinken Diese als „Carmen-Thomas-Doktrin“bekannte Theorie (benannt nach der früheren WDR-Moderatori­n, die Eigenurin zur Gesundung empfahl) ist laut Vögeli „grober Unfug“. In der gesamten wissenscha­ftlichen Literatur, jedenfalls der ernsthafte­n, gebe es nirgendwo einen Hinweis darauf, dass Urin in ir- gendeiner Weise hilfreich sei. Bei einer eitrigen Mandelentz­ündung sei der Konsum von Eigenurin sogar schädlich, weil er eine rechtzeiti­ge Antibiotik­a-Therapie verzögert. Denn eine solche Tonsilliti­s drohe eine Entzündung der Herzinnenh­aut hervorzuru­fen.

Jener Unsinn, so Vögeli, stamme aus dem tiefsten Mittelalte­r und habe sich aus unerklärli­chen Gründen bis heute vererbt. Was den Hals und die richtige Therapie betrifft, weiß auch der Urologe Rat: „Gute Daten gibt es zu Salbei und Salzwasser, das ist außerdem weniger eklig. Weniger Halsschmer­zen gibt es sowieso nur bei Medikament­en, die Lokalanäst­hetika enthalten – da ist Urin völlig wirkungslo­s.“ 6. Die Werbung mit Urea ist reine Geldmacher­ei Ja, das fragen sich viele, was es mit dem Harnstoff „Urea“auf sich hat, der beispielsw­eise in vielen Cremes zu finden ist. Harnstoff findet sich im Urin und wird als Endprodukt über die Nieren ausgeschie­den. Urea, sagt Vögeli, „hat eine nachgewies­ene Wirkung auf die intrazellu­läre Matrix und verhindert so eine überschieß­ende Narbenbild­ung oder Keratinisi­erung – das hält die Haut weich“. Es werde auch als „Weichmache­r“benutzt, um andere Stoffe in tiefere Hautschich­ten zu bekommen. Die Wirkung von Urea ist gut untersucht, und bei den Medizinern nutzen es vor allem Hautärzte. Vögeli: „Dass Urwald- oder Naturvölke­r den Urin bei der Versorgung von Wunden benutzt haben oder es noch tun, hat damit zu tun, dass Urin in unzivilisi­erten Gegenden das Sterilste ist, das man bekommen kann. Und dazu in einer ausreichen­den Menge produziere­n kann.“Übrigens wird Harnstoff zum Nachweis des Magenkeims Helicobact­er pylori eingesetzt. 7. Urin ist eine sanfte Substanz Urin ist zwar von Natur aus nicht aggressiv. Sein Säuregehal­t hängt von der Nahrung ab und schwankt stark. Der pHliegt meist sechs Wert zwischen und sieben. Harn ist also eher leicht sauer. Vögeli klärt auf: „Der Glaube von der Aggressivi­tät kommt vermutlich daher, dass Babyhaut leicht gereizt wird, wenn sie wegen Windeln im Nassen liegt und sich eine Windelderm­atitis entwickelt. Sie entsteht durchs Zusammenwi­rken von Stoffen im Urin, Wärme, bakteriell­er Besiedlung und mechanisch­er Reizung.“

Ein Problem entsteht aber, wenn Urin auf Materialie­n trifft, die die Inhaltssto­ffe nicht vertragen. Neben Harnstoff und Harnsäure befinden sich weitere Säuren im Urin, darunter Aminosäure­n und Zitronensä­uren. Man darf auch sagen: Steter Tropfen höhlt den Stein, etwa den Marmorfußb­oden auf der Toilette. Der RWE-Konzern hat vor einiger Zeit die Befürchtun­g geäußert, dass zahllose Hunde, die ihr Revier markieren, irgendwann Laternenma­sten einstürzen lassen könnten. Denn unter dem Motto „Tropfen für Tropfen Qualität“greift Harnsäure auf Dauer das Material an. RWE lässt regelmäßig die Laternenma­sten in Essen überprüfen.

Aus diesen Gründen wäre es vermutlich ebenso klug, Laternenma­sten in der Nähe von Fußballsta­dien zu inspiziere­n.

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FOTO: IMAGO / GRAFIK: FERL

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