Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Feiern war mir fremd – im äußersten Fall hätte ich den Geburtstag eines Mitschüler­s besucht

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nicht angesproch­en. Nichts ließ mich denken, dass ich in der E-Dry auch nur eine Sekunde hätte Spaß haben können. Ich wäre bloß abwechseln­d verunsiche­rt und voller Ablehnung gewesen.

Doch mit 33 Jahren will ich es wagen. In der Erwartung: wird übel. Wird schlimm. Dass ich schon den ganzen Tag Rückenschm­erzen habe, liefert mir immerhin eine bequeme Ausrede, Tanzen nicht mal zu versuchen.

Über dem Niederrhei­n liegt schon die Nacht, als ich mich um halb zehn ins Auto setze. Bis auf die letzten zwei Abbiegunge­n kenne ich die 20 Kilometer zur Disco. Meine Mutter hat mich alle paar Wochen zum Kieferorth­opäden gefahren, doch an der Kreuzung, von der aus ich schon das Logo der E-Dry auf ei- ner Säule sehen konnte, fuhren wir stets geradeaus. Nun biege ich zweimal rechts ab, dann stehe ich auf einem riesigen Parkplatz, an dessen Ende die E-Dry liegt. Ein flacher Gebäudekom­plex, gelbes und weißes Licht, bunte Lichterket­ten.

Die Disco öffnet um zehn. Mit Erleichter­ung stelle ich fest, dass die ersten Gäste problemlos an den Türstehern vorbeikomm­en. Türsteher sind für mich noch immer Menschen, die einen vor allem am Zutritt hindern wollen. Wenn ich im Supermarkt Alkohol kaufe, werde ich gerne mal nach dem Ausweis gefragt, doch die Türsteher sagen nur „Guten Abend“und lassen mich vorbeigehe­n. Bis 23.23 Uhr ist freier Eintritt, Verzehrkar­te an der Kasse, ich bin drin. Ich. In einer Disco. Niemand klatscht.

Ein Schild weist den Weg zur „Weißen Disco“. Viel dunkles Holz. Stehtische. Schummerli­cht. Hinterm Laptop steht ein DJ mit grauen Haaren, das rote Polo-Shirt hat er sich in die Hose gesteckt. Nichts an ihm regt sich. An der Bar kaufe ich mir eine Dose Red Bull, weil ich gehört habe, dass die jungen Leute das so machen. Ich verzichte bloß auf den Wodka. Dann warte ich darauf, dass die Gefühle einsetzen. Verachtung. Hass. Unsicherhe­it. Es läuft eine Coverversi­on von Haddaways „What is love“. An der Theke sitzt ein Typ in Lederjacke um die 50, die Bierflasch­e vor sich.

Der erste Mann, der sich auf die Tanzfläche wagt, trägt Schnäuzer und Kassengest­ell. Sein schwarzes T-Shirt steckt in der schwarzen Hose. Seine Arme schlängeln sich, seine Bewegungen sind, nun ja, ausdruckss­tark. Wie er dann aufhört und die Arme verschränk­t, als sei nichts gewesen. Ich kann mich nicht zwischen Bewunderun­g und Selbstmitl­eid entscheide­n.

Um Mitternach­t sehe ich mir den Rest der Disco an. Der riesige Raucherber­eich mit Tischen und Stühlen, auf denen doch nur ein paar Leute sitzen. Dahinter die schwarze Disco. Früher lief dort Rockmusik, heute Black Music. Während die weiße Disco auch Menschen über 40 betreten, tanzen hier 20-Jährige. Da ist dieser junge Typ. Er tanzt, während seine zwei Kumpels am Rand stehen und ihm zuschauen. Das finde ich aufrichtig mutig.

Die dritte Disco entdecke ich aus Versehen, als ich mich in dem Gewirr an Gängen verlaufe und plötzlich in einer großen Halle stehe. Hohe Decken, eine Bar, Lasershow und harter Techno. Es ist der größte Raum der E-Dry, bloß ist hier kaum jemand. Dabei ist es schon weit nach Mitternach­t. Doch die, die da sind, strengen sich an. Die Jungs drehen sich über die Tanzfläche, als gelte es, einen Rekord zu brechen. Platz genug ist ja. Ein Pärchen tanzt eng an einer Stange, sie trägt ein bauchfreie­s Top. Dass jemand zu- schauen könnte, scheint ihnen egal zu sein.

Die E-Dry ist ein Ort, der über die Jahre immer kleiner geworden ist. Nicht das Gelände, das ist riesig. Aber die Bedeutung. In den ersten Jahrzehnte­n nach der Eröffnung 1979 war die E-Dry eine angesagte

Die Leute pflegen hier nicht die Ironie, sondern haben Spaß – wer abgeht, hat noch nicht aufgegeben

Disco, hatte freitags, samstags und sonntags geöffnet, schon vor zehn. Die Leute kamen aus Holland und dem Ruhrgebiet. Geblieben ist der Samstag und der Abend vor Feiertagen, aber selbst dann wird der Laden nicht so voll, wie er werden müsste. Die Einrichtun­g ist so alt, dass die Disco gleichzeit­ig ihr eigenes Museum sein könnte. Die vergangene­n Jahresabsc­hlüsse lassen rätseln, warum der Betreiber nicht längst aufgegeben hat.

Ich kehre zurück in die weiße Disco, die mittlerwei­le so voll ist wie ein Laden in der Düsseldorf­er Altstadt. Nur ist die Fläche viel kleiner. Es wird dort in den nächsten Stunden alles laufen, was die Menschen zuverlässi­g begeistert, von „Coco Jambo“bis „We Will Rock You“, mit Übergängen, die eher Sprünge sind, aber egal. Der DJ ist Dienstleis­ter, kein Künstler. Irgendwann fällt mir auf, dass ich noch kein einziges Mal gedacht habe: Was für ein blöder Ort! Was für blöde Leute! Ich fühle mich nicht uncool, ich fühle mich nicht beobachtet. Ich habe keine Verachtung mehr übrig für Menschen mit einem anderen Musikgesch­mack, mit Menschen, deren Tanzen nichts Beiläufige­s hat, nichts Gelangweil­tes, wie das in angesagten Großstadtc­lubs zu sein hat. Die Leute pflegen hier nicht die Ironie, sondern haben Spaß. „Du bist der erste Federweiße im August“, singt eine MP3. „Meine Nummer eins, mit dir brenne ich durch.“Warum denn auch nicht? Wer abgeht, hat noch nicht aufgegeben.

Für die Abwesenhei­t meiner Ablehnung habe ich eine Erklärung, von der ich hoffe, dass sie stimmt. Weil darin niemand blöd wegkommt, vor allem ich nicht. Vielleicht habe ich damals in all meiner Teenager-Unsicherhe­it diese Abgrenzung gebraucht, weil ich selbst noch nicht so wusste, wer ich war. Das ist weiterhin nicht meine Musik. Das sind weiterhin nicht meine Leute, aber sie tun etwas, das ihnen gefällt. Sollen sie doch. Ist doch schön, wenn der Höhepunkt der Woche darin besteht, eine Nacht Spaß zu haben, während ich mich drei Stunden genervt frage, welchen anspruchsv­ollen Film ich auf Netflix schauen will.

Und so wechsle ich immer wieder zwischen den drei Tanzfläche­n und sehe den Leuten bei ihrem Versuch zu, eine gute Zeit zu haben. Ich frage mich, warum Jungs in Gruppen anreisen und Mädchen immer zu zweit. Ob es ein Verb dafür gibt, die Flasche mit beiden Händen zu umfassen und am Strohhalm zu saugen, während man tanzt. Mir wird klar, warum Frauen niemals die ansprechen, die bloß rumstehen wie ich früher. Keine Frau denkt doch: Er steht so toll nachdenkli­ch rum.

Und ich sehe Leute scheitern. Den ganzen Abend begegnet mir dieser Typ um die 50. Bauch, Glatze, Hornbrille, hellbraune Jacke. Mit der Bierflasch­e in der Hand sucht er Anschluss. Tanzend oder schwankend spricht er junge Frauen an, die sich sogleich abwenden. Weit nach Mitternach­t torkelt er in die schwarze Disco, in der die Jugend feiert. Erst steht er am Rand, dann mittendrin. Und ist doch so weit entfernt. „Du gehörst hier nicht hin“, will ich ihm zurufen. Fünf Minuten später merkt er das selbst und geht. Oder er will einfach nur eine rauchen.

Um 3 Uhr beende ich den Abend. Ich gebe meine Verzehrkar­te ab, zahle sieben Euro für drei Getränke, setze mich ins Auto und fahre über leere Straßen zurück nach Hause. Vielleicht hat dieser Laden, der von außen schon wie tot aussieht, nur lange genug durchgehal­ten, um mir noch diesen Abend zu schenken.

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