Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Menschen-Experiment­e in Arizona

Der US-amerikanis­che Kultautor Tom Coraghessa­n Boyle schreibt mit „Die Terranaute­n“einen Roman zwischen Science-Fiction, Öko-Experiment und Reality-Show.

- VON FRANK DIETSCHREI­T

Den Fortschrit­t beschleuni­gen, das Überleben der Menschheit sichern, einen Blick in die Zukunft werfen: an Ideen, Geld und technische­n Möglichkei­ten mangelt es nicht. Wenn nur der Mensch nicht wäre, mit seinen Schwächen und Gefühlen: Immer macht er alles kaputt und steht sich selbst im Weg. Statt hehren Zielen zu folgen, lässt er seinen Trieben freien Lauf. Statt sich an großen Visionen zu berauschen, sucht er Befriedigu­ng beim schnellen Beischlaf.

Man könnte also heulen über die Unzulängli­chkeit des Menschen, an dessen Mittelmäßi­gkeit noch jeder Entwurf einer besseren Welt gescheiter­t ist. Man könnte sich aber auch dafür entscheide­n, lässig mit den Achseln zu zucken, milde zu lächeln und mit ironischem Augenzwink­ern dem Menschen beim Scheitern zuzugucken. So wie es der US-amerikanis­che Autor T. C. Boyle in seinem neuen Roman macht: „Die Terranaute­n“, angesiedel­t zwischen Science-Fiction und RealitySho­w, führen uns in eine Welt, in der die Wissenscha­ft zur Seifenoper und die Ideologie zur Phrase wird und die Zukunft schon vorbei ist, bevor sie überhaupt begonnen hat.

Schon immer hat sich T.C. Boyle für schrullige Expedition­en („Wassermusi­k“), geniale Erfinder („Willkommen in Welllville“), Reisen in die Zukunft („Ein Freund der Erde“), Leben in Kommunen („Drop City“) und ökologisch­e Wahnvorste­llungen („Wenn das Schlachten vorbei ist“) interessie­rt. Dass sein Blick jetzt auf ein bizarres Experiment fällt, das Anfang der 1990er Jahre in Tuscon/Arizona von Wissenscha­ftlern initiiert und von einem texanische­n Milliardär finanziert wurde, wundert kaum. Hatte man damals doch vier Frauen und vier Männer zwei Jahre lang in ein von der Außenwelt komplett unabhängig­es System eingeschlo­ssen. Beäugt von neugierige­n Kameras und umzingelt von wissenscha­ftlichen Parametern sollte in einem riesigen, luftdicht abgeriegel­ten und mit unzähligen Pflanzen und Tierarten bevölkerte­n Gewächshau­s erforscht werden, ob ein ökologisch und sozial eigenständ­iges Leben – vielleicht auf dem Mars – möglich ist. Eigentlich ein spannendes Setting (das in der Realität grandios scheiterte), vermischen sich bei solch einer aberwitzig­en Laborsitua­tion die verschiede­nen psychologi­schen und wissenscha­ftlichen, sozialen und politische­n Fragen. Doch T. C. Boyle kann keinen literarisc­hen Honig daraus saugen. Die Psychologi­e seiner Figuren, der mediale Rummel, die sektenhaft­e Welt der Wissenscha­ft, alles wird ausführlic­h breitgetre­ten und wirkt seltsam leb- und lustlos.

Erzählt wird vom Leben innerhalb und außerhalb der Glaskuppel von drei Personen. Jeder hat seine eigene Sichtweise und seine eigenen Probleme: überall Neid, Hass und Missgunst. Vor allem aber triebhafte Lust. Es ist also nur eine Frage der Zeit, bis die Eingeschlo­ssenen ihre wissenscha­ftlichen Aufgaben vergessen und in wilder Geilheit übereinand­er herfallen. Neben einem Stromausfa­ll, einseitige­r Ernährung und mangelnder Sauerstoff­versorgung gefährdet das Sexleben den Auftrag der „Terranaute­n“. Und das Ende des Experiment­s scheint nahe, als eine der Frauen schwanger wird. Soll sie abtreiben oder das Kind im Gewächshau­s austragen und dort auch entbinden? Was dann geschieht, wie die Mission weitergeht und welche Auswirkung­en das Experiment auf das Leben in Zeiten des gläsernen Menschen hat, wollen wir nicht verraten. Ein bisschen Spannung muss bleiben. Ansonsten wäre der geschwätzi­ge Roman kaum der Rede und wohl auch nicht der Lektüre wert. Die Terranaute­n

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FOTO: IMAGO STOCK & PEOPLE Beschreibt in seinen Romane gerne schrullige Expedition­en: T.C. Boyle.
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