Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Die letzte Zeugin

Die Kanzlerin muss heute zum Diesel-Skandal im Untersuchu­ngsausschu­ss aussagen, der danach die Beweisaufn­ahme schließt. Eine Kernfrage: Beschwerte sich Merkel in den USA über zu strenge Abgasnorme­n für deutsche Autobauer?

- VON JAN DREBES

BERLIN Vor sieben Jahren, im Frühjahr 2010, saß die Bundeskanz­lerin am Frühstücks­tisch in Los Angeles. Kalifornie­ns Gouverneur Arnold Schwarzene­gger hatte Angela Merkel (CDU) eingeladen, mit ihm über den Klimawande­l zu sprechen. Mit am Tisch: Mary Nichols, genannt „Queen of Green“, Chefin der kalifornis­chen Umweltbehö­rde Carb. Was Nichols von Merkel gehört haben will, kurz nachdem die drei Platz genommen hatten, beschäftig­t heute den Untersuchu­ngsausschu­ss des Bundestage­s zum VWAbgasska­ndal.

Merkel, so sagt die heute 71-jährige Behördench­efin, habe ihr damals zugeraunt, „Ihre Standards sind zu strikt“, und weiter beklagt, dass die strengen Stickoxid-Vorschrift­en in Kalifornie­n die deutschen Autoherste­ller daran hindern würden, Dieselfahr­zeuge an der US-Westküste zu verkaufen. Mit allem habe sie gerechnet, sagt Nichols, nicht jedoch mit einer solchen Lobby-Arbeit für die deutsche Autoindust­rie.

War die Kanzlerin also schon lange vor Bekanntwer­den der Manipulati­onen an VW-Dieselmoto­ren im Bilde über Schwierigk­eiten bei den Abgaswerte­n? Wann und wie reagierte sie auf den Skandal? Und was unternahm Merkel danach, um Gesundheit und Umwelt zu schützen und der Industrie Schranken zu setzen? Diesen Fragen wollen die Bundestags­abgeordnet­en nachgehen, wenn sie heute Merkel als letzte Zeugin im Untersuchu­ngsausschu­ss vernehmen.

„Wir erwarten von Angela Merkel, dass sie nach eineinhalb Jahren seit Bekanntwer­den des Abgasskand­als endlich Aufklärung schafft, die der zuständige Verkehrsmi­nister Alexander Dobrindt (CSU) bisher nicht leisten konnte“, sagt etwa GrünenFrak­tionsvize Oliver Krischer. Nebulösen Ankündigun­gen der Bun- desregieru­ng sei nicht viel gefolgt. „Dafür trägt auch Frau Merkel politische Verantwort­ung“, so Krischer.

Dass die Kanzlerin schon vor Bekanntwer­den des Skandals im September 2015 von den Manipulati­onen wusste, glaubt aber keiner der Abgeordnet­en ernsthaft. Der über die Affäre gestürzte VW-Boss Martin Winterkorn, ein bis dahin gern gesehener Gast im Bundeskanz­leramt, berichtete im Ausschuss, Merkel sei am 22. September 2015 telefonisc­h über die Manipulati­onen informiert worden – nachdem am Wochenende zuvor bereits die VW-Führung eine Krisensitz­ung nach der anderen abgehalten hatte.

Und auch für die SPD-Obfrau im Ausschuss, Kirsten Lühmann, ergaben sich bei einer Befragung von Mary Nichols am Montagaben­d via umweltfreu­ndlicher Video-Konferenz keine Anhaltspun­kte dafür, dass die Kanzlerin schon 2010 Kenntnis von illegalen Praktiken bei VW gehabt habe. „Dennoch ist es natürlich bemerkensw­ert, dass die Kanzlerin so detaillier­t über Stickoxidg­renzwerte eines einzelnen USBundesst­aates und ihre Bedeutung für die deutsche Autoindust­rie Bescheid wusste“, sagte Lühmann.

Doch was folgt politisch daraus, sollte Merkel heute ihr Intervenie­ren für die Autoindust­rie nicht nur in Kalifornie­n, sondern etwa auch bei Verhandlun­gen neuer EUGrenzwer­te in Brüssel bestätigen? Kaum etwas, so die allgemeine Erwartung. Schließlic­h werde von deutschen Politikern auch erwartet, sich für die Interessen der heimischen Wirtschaft einzusetze­n.

Wenn also der Untersuchu­ngsausschu­ss nach der Vernehmung der Kanzlerin heute seine Beweisaufn­ahme schließt, bleibt die Frage, welche Erkenntnis­se gewonnen werden konnten – abgesehen davon, dass VW-Kunden in Deutschlan­d bislang in dem Betrugsska­ndal leer ausgingen, während der größte Autobauer Europas allein in den USA Strafen und Entschädig­ungen von mehr als 20 Milliarden Euro bezahlen muss. Für Grünen-Politiker Krischer ist klar, dass die Bundesregi­erung nun klare Maßnahmen für mehr Umwelt- und Gesundheit­sschutz vorlegen muss, ohne dass zukünftig Fahrverbot­e auf den Straßen drohen. CSU-Obmann Ulrich Lange verweist auf „viele Sofortmaßn­ahmen“als Ergebnis der Ausschussa­rbeit. „So etwa die Rückrufe betroffene­r Fahrzeuge, die Offenlegun­g der Software bei der Typgenehmi­gung oder der Grundstein für die Durchführu­ng unangemeld­eter Zufallskon­trollen“, sagte Lange. Einen Abschlussb­ericht soll es bis zur Sommerpaus­e geben.

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FOTO: AFP Da war die VW-Welt noch in Ordnung: Bundeskanz­lerin Angela Merkel und der damalige VW-Vorstandsv­orsitzende Martin Winterkorn bei der Automobilm­esse in Frankfurt 2011

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