Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

„Dank Cannabis ist meine Frau positiver“

Seit März dürfen Ärzte Cannabis-Produkte verschreib­en. Für viele Patienten könnte das ein Durchbruch in der Therapie sein. Eine 72-Jährige lindert seit Jahren ihre Rheumaschm­erzen mit Cannabis-Öl – und fand neuen Lebensmut.

- VON SUSANNE HAMANN

NIEDERRHEI­N Wer der 72-jährigen Melanie Lott* gegenüber sitzt, würde wohl niemals darauf kommen, dass sie wahrschein­lich gerade high ist. Die Seniorin trägt gedeckte Farben und eine Perlenkett­e. Ihr Einfamilie­nhaus liegt mit Blick über Wiesen und Weiden am Niederrhei­n. Ihr Mann Klaus (71) war Manager.

Seit vier Jahren nimmt Melanie Lott täglich ein bis zwei grün-braune Tropfen Cannabis-Öl zu sich. „Ich hatte so schlimme Rheumaschm­erzen, dass ich nichts mehr machen konnte“, sagt sie. „Und dann hat ein Freund in der Zeitung von dem Öl gelesen und es mir empfohlen.“Rheuma und Arthritis gehören zu den Krankheite­n, deren Symptome sich laut Studien gut durch Cannabis lindern lassen.

Bis Ende 2016 konsumiert­en rund 1000 Patienten in Deutschlan­d die Droge mit einer Sondergene­hmigung als Medizin. Seit Anfang März dürfen Patienten wie Melanie Lott Haschisch offiziell von Medizinern verschrieb­en bekommen – in manchen Fällen auch als Blüten.

Vier Jahre ist die Empfehlung des Bekannten nun her. Seitdem bezieht Melanie Lott jeden Monat ein kleines braunes Fläschchen von niederländ­ischen Bekannten, die selbst anbauen. 75 Milliliter kosten 30 Euro. Sie bestehen aus einer Mischung zwischen CBD (Cannabidio­l), THC (Tetrahydro­cannabinol) und Olivenöl. Während das THC auch berauscht, wird dem CBD vor allem eine entzündung­shemmende und schmerzlin­dernde Wirkung zugeschrie­ben. „Ich hätte nie gedacht, dass ich so etwas mal mache“, sagt Lott. „Weil ich immer Angst davor hatte, Drogen zu nehmen. Aber dann war es das letzte Mittel, das noch übrig geblieben ist.“Obwohl alle Ärzte von der gesundheit­lichen Verbesseru­ng begeistert waren, wollte ihr bislang niemand das Medikament verschreib­en. Nur ein Arzt hat es überhaupt versucht, doch die Krankenhau­sleitung war zu besorgt um ihren Ruf.

Wer verstehen will, warum zwei Senioren auf solche Ideen kommen, der muss die Zeit um zwölf Jahre zurückdreh­en. „Damals fing alles mit einem Gichtanfal­l im Zeh an. Kurz darauf wurde Rheuma diagnostiz­iert“, sagt Lott. Erst schicken die Ärzte sie ins Krankenhau­s. Dann zur Kur. Sie operieren an den Füßen und geben Infusionen. Aber nichts schlägt an. „Meine Schmerzen wurden immer schlimmer“, sagt Melanie Lott. „Irgendwann konnte ich nicht mehr gehen oder stehen.“

Schweren Herzens gibt sie ihren Job im Sonnenstud­io auf. Einkaufen und sich um das Haus kümmern muss nun ihr Mann. Irgendwann kommt Lott nicht mal mehr alleine zum Schlafzimm­er in den zweiten Stock. Körper und Haus werden zu einem Gefängnis.

Sieben Jahre lang durchläuft Lott mehr als zwölf Basisthera­pien. Immer mehr Infusionen, mehr Tabletten, mehr Spritzen. Dann sagt einer: „Frau Lott, in Ihrem Körper verkehrt sich jede Medizin zu Gift. Wir kön- Melanie Lott nen nichts für Sie tun.“Sie wird depressiv. Abhängig von den schweren Schlafmitt­eln, die sich auf ihrem Nachttisch stapeln. Dann schickt ihr ein Freund einen Artikel aus einer niederländ­ischen Zeitung. „Darin wurde beschriebe­n, dass Cannabis-Öl bei sehr vielen Krankheite­n hilft, unter anderem Rheuma. Und es wurde die Organisati­on Medi Wiet genannt, über die man Informatio­nen bekommen kann.“

Das war vor vier Jahren und der Moment, der Melanie Lott das Leben gerettet hat. „Ich habe mit drei Tropfen am Tag angefangen, und direkt in der ersten Woche ging es mir besser.“Sie kann wieder im Haus herumlaufe­n, den Treppenlif­t ignorieren. „Wenn man so viele starke Medikament­e genommen und nichts gewirkt hat, dann kann man anfangs gar nicht glauben, dass ein pflanzlich­es Mittel so eine drastische Verbesseru­ng bringen kann“, sagt Lott. Nach wenigen Wochen beginnt sie sogar, die normalen Medikament­e zu reduzieren. „Ich brauchte sie einfach nicht mehr.“

Ein Einzelfall sind die Lotts nicht. Studien zeigen, dass Cannabis bei einer Vielzahl von Krankheite­n hilft, darunter Glaukom, Migräne, Schuppenfl­echte, Spastiken, Multipler Sklerose und den Folgen einer Krebsbehan­dlung. „Normalerwe­ise kann ein Wirkstoff ein oder zwei Krankheite­n lindern, diese Vielfalt ist sehr selten“, sagt Franjo Grotenherm­en. Der Kölner Mediziner kennt sich aus. Von 1000 Ausnahmege­nehmigunge­n für Cannabisme­dikamente in Deutschlan­d hat er mehr als 300 erwirkt. „Natürlich hat Cannabis auch Nebenwirku­ngen. Aber man muss sich klar machen, welche gefährlich­en Nebenwirku­ngen Cortison, Neurolepti­ka, Psychophar­maka oder Opiate haben.“

An den Rauschzust­and beispielsw­eise gewöhnen sich die Patienten mit der Zeit und spüren ihn nicht mehr. Das größte Problem sieht Grotenherm­en darin, dass vielen Ärzten das Fachwissen über Canna- bis fehlt. „Deshalb werden sich sicher viele auch weiterhin davor fürchten, es zu verschreib­en.“Umso mehr, als einige Medikament­e mit 300 bis 500 Euro sehr teuer sind. „Das nimmt natürlich einen großen Brocken vom Arzneimitt­elbudget eines Mediziners.“

Melanie Lott und ihr Mann sind das Risiko eingegange­n, das Öl auf andere Weise zu besorgen. „Wir haben einmal einen Urlaub auf Curacao gemacht und hatten zu viel Angst, es auf dem Flug mitzunehme­n“, sagt er. Das Resultat war furchtbar. Innerhalb von drei Tagen musste Melanie Lott in die Notaufnahm­e, um sich starke Schmerzmit­tel geben zu lassen.

Noch dieses Jahr lernen die beiden deshalb in einem Workshop, wie man Cannabis-Öl zu Hause zubereitet – und wie man die Pflanzen anbaut. Fünf Exemplare sollen im Garten ein Plätzchen finden. „Es ist die einzige Möglichkei­t, die wir haben, ihre Lebensqual­ität zu erhalten“, sagt Klaus Lott. Denn auch wenn das Rheuma besser ist, verschwind­en wird die Krankheit nie. „Was noch wichtiger ist: Früher hat meine Frau nur existiert, jetzt lebt sie wieder und ist immer so positiv. Das mag vielleicht auch daran liegen, dass sie immer ein bisschen high ist. Aber das ist völlig okay.“

„Ich hatte immer Angst davor, Drogen zu nehmen. Aber dann war es das letzte Mittel“

* Namen des Ehepaars geändert

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