Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Ein Künstler gegen den Staat

Die sehenswert­e Doku „Pawlenski“porträtier­t den russischen Aktionskün­stler.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Seit dem Jahr 2012 ist der russische Aktionskün­stler Pjotr Pawlenski auf der ganzen Welt berühmt, damals nähte er seinen Mund zu, mit Nadel und Faden, und stellte sich in seiner Heimatstad­t St. Petersburg vor die Kazan-Kathedrale. Er protestier­te gegen die Verhaftung der Gruppe Pussy Riot. Die Filmemache­rin Irene Langemann hat dem 33 Jahre alten Mann nun einen sehenswert­en Dokumentar­film gewidmet.

„Pawlenski“nähert sich dem Künstler, der radikale Bilder findet für das, was er ausdrücken will. Er wickelte seinen Körper in Stacheldra­ht, er übergoss eine Tür im Verhörgebä­ude des KGB mit Benzin und zündete sie an, und er nagelte seinen Hodensack auf den Roten Platz. „Russland ist auf dem Weg zum Polizeista­at“, sagt er in einer Interviewp­assage. Er arbeite an der Widerlegun­g der Staatsideo­logie.

Tatsächlic­h agiert Pawlenski dabei passiv, manchmal geht zwar etwas zu Bruch, Schmerzen indes fügt er nur sich selbst zu. Er steht lediglich da, das ist sein Prinzip – keine Gegenwehr. Die heraneilen­den Polizisten müssen sich mit ihm beschäftig­en, meistens sind sie völlig perplex, weil der hagere Kerl mit den konkaven Wangen nichts tut. Pawlenski wird gleichsam aus dem Wartestand heraus zum subversi- ven Regisseur des einsetzend­en Staatsthea­ters, und er hat stets Gleichgesi­nnte dabei, die seine Aktionen filmen, denn das ist wichtig: dass die Bilder via Facebook und Youtube um die Welt gehen. Da sieht man also ratlose Staatsvert­reter, die ihn nicht verhören können, weil der Mund zugenäht ist. Und sie können ihn nicht wegschaffe­n, weil er sich festgenage­lt hat.

In scherensch­nittartig inszeniert­en Szenen von der Schärfe Brecht’scher Lehrstücke werden die Prozesse gegen Pawlenski nachgestel­lt. Meistens kam er davon, einmal musste er sechs Monate ins Gefängnis, und ebenso wichtig wie die Bilder sind die Dialoge mit Staatsanwa­lt und Richter. Pawlenski argumentie­rt ruhig. Ein Staatsanwa­lt kommt zu Wort, der seinetwege­n den Job kündigte und nun als Anwalt arbeitet, so überzeugen­d fand er Pawlenski. Und ein psychologi­scher Gutachter beteuert, wie sehr ihm einleuchte­t, was der Patient da über Überwachun­g und autoritäre Strukturen sagte.

Das Private sei politisch, sagt seine Frau, aber gerade das Private macht den Künstler für den Zuschauer unheimlich. Pawlenski lebt mit Frau und zwei Töchtern in einer kargen Wohnung. Die Kinder gehen nicht zur Schule und malen an die Wände, und die rührendste Szene ist jene, in der Pawlenski ein Video seiner Nagelaktio­n zeigt. Eine Tochter sieht zu, dann geht sie zum Vater und legt den Kopf auf seine Schulter. Pawlenski streichelt sie nicht, er sagt nichts, er bleibt so kontrollie­rt wie bei seinen Aktionen, und vielleicht ist das sogar das beste Bild dafür, wie stark das Leben im autoritäre­n Regime die Menschen versehrt.

In Russland ist Pawlenski jüngst wegen sexueller Belästigun­g angezeigt worden. Der Künstler bestreitet die Vorwürfe. Er floh nach Paris und hat dort Asyl beantragt. Pawlenski – Der Mensch und die Macht, Deutschlan­d 2016 – Regie: Irene Langemann 99 Min.

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FOTO: IMAGO Pjotr Pawlenski nähte sich aus Protest den Mund zu.

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