Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Der Erfinder der Jugendkult­ur ist tot

Chuck Berry starb 90-jährig in Missouri. Sein Enten-Gang und Songs wie „ Johnny B. Goode“machten ihn berühmt.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

DÜSSELDORF Jung zu sein ist auch deshalb so schön, weil es Chuck Berry gab. Genau genommen war ja er der Erfinder des Jugendlich­en an sich, des Konzepts Teenager, denn er war der Erste, der Rock’n’Roll nicht bloß als Tanzmusik verstand, als reines Entertainm­ent also. Chuck Berry begriff Rock’n’Roll als umfassende­s künstleris­ches Konzept, als Lebenseins­tellung, und dazu gehörte eine bestimmte Art, auf die Welt zu blicken sowie das Verständni­s, wie man selbst in und zu dieser Welt steht. Dass man die Elterngene­ration hinterfrag­t, dass man sich löst von ihren Vorgaben, dass man den Aufstand probt, sein Dagegensei­n artikulier­t, rebellisch ist und die Ärmel des T-Shirts aufkrempel­te und die Haare zur Tolle kämmte, das alles geht zurück auf Chuck Berry. Wenn es stimmt, was manche Bewunderer sagen, dass Berry der König gewesen ist, dann war die Jugend sein Reich.

Nun ist er in Missouri gestorben, die Polizei hat den 90-Jährigen tot in seinem Haus gefunden. Kurz nachdem die Nachricht um die Welt lief, bedankten sich jene bei ihm, die erst durch ihn wurden, was sie sind. Der rührendste Gruß stammt von einem seiner größten Fans, von Mick Jagger. Jagger hat nie aufgehört, jung zu sein, er weiß ziemlich genau, worauf es beim Rock’n’Roll ankommt, auf das Gemeinscha­ftserlebni­s nämlich, das Zusammense­in im Ekstatisch­en, die Togetherne­ss. Er und Keith Richards wurden ja auch deshalb zu Freunden, weil beide Chuck Berry so verehrten. Für die Gründung der Rolling Stones ist Chuck Berry also indirekt verant- wortlich, für die der Beatles außerdem, und deshalb darf man ruhig mal die Frage stellen, ob diese Welt womöglich noch schwarzwei­ß wäre, wenn Berry 1926 nicht auf die Welt gekommen wäre, ob es dann überhaupt schon Farbe geben würde, das Technicolo­r der gitarrenbe­seelten Schwärmere­i. Jagger twitterte jedenfalls dieses: „Du hast Licht in unsere Teenager-Jahre gebracht. Deine Musik ist in uns eingravier­t.“

Chuck Berry war ein wilder Kerl in den frühen 50er Jahren, er saß im Jugendgefä­ngnis wegen eines Raubüberfa­lls, und als er rauskam, kaufte er sich eine Gitarre. Er spielte und komponiert­e, und weil Jungs mit Gitarren fast immer Träumer sind und wie alle Träumer Helden haben, von denen sie meinen, dass die den Traum bereits verwirklic­ht haben, reiste er zu einem Konzert seines Idols Muddy Waters und sprach ihn an: Ich möchte auch etwas aufnehmen, Muddy. Wo kann ich das tun? Und Muddy brummte: Bei Chess. Das war damals das legendäre Label, und tatsächlic­h ließen sie den begabten Jungen dort ins Studio, sie erkannten sein Talent, sie polierten und korrigiert­en noch ein bisschen, und das Ergebnis war Berrys erste Single, sie heißt „Maybellene“und ging 1955 sofort in die Top 10.

Schon bei den ersten Auftritten zeigte Berry sein Markenzeic­hen, den Duckwalk, den Entengang also, das Symbol dafür, dass das körperlich­e Musik war, dynamische Musik, dass man nicht stillstehe­n konnte, während man sie hörte und produziert­e. Es folgten die ewigen Hits „Roll Over Beethoven“(1956), „Rock and Roll Music“(1957), „Sweet Little Sixteen“(1958) und der Überknülle­r „Johnny B. Goode“(1958).

Wenn man die Liste dieser Titel liest, geht einem auf, dass man Berry noch wegen einer anderen Sache sehr dankbar sein darf: Er hob die Trennung zwischen Schwarz und Weiß auf, die damals das Showbusine­ss beherrscht­e. Er verband Wel- ten miteinande­r, und er machte die eine Welt, die daraus entstand, zu einem lebenswert­eren Platz. Weiße Jungs wie Mick und Keith und Paul und John waren ihm ergeben, die ersten Songs der Stones waren Stücke von Berry, und die Beatles coverten schon 1962 in Hamburg sein „Rock and Roll Music“. Der Pop war nicht immer der ideale Ort, jener Fluchtpunk­t, zu dem ihn die 60er Jahre erkoren haben. Aber Chuck Berry hat den Horizont geöffnet, damit die Leute auf ihrer Magical Mystery Tour den Weg ins Pepperland finden.

Die Gitarre galt damals übrigens als reine Begleitung, erst Berry hat sie zum stilprägen­den Element der populären Musik gemacht. Man kann das nachvollzi­ehen, wenn man sich die Intros zu seinen größten Stücken anhört. Diese Eröffnun- gen von vielleicht zehn Sekunden Länge sind kleine Kunstwerke an sich. Sie geben das Thema vor, die Stimmung, den Groove. Sie setzen den Hörer auf die Schiene, auf dass er dann beim Refrain volltourig laufe. Und dazu erzählte Berry seine Geschichte­n, auch darin war er ein Pionier. Er begnügte sich nämlich nicht damit, Herz auf Schmerz zu reimen und den Jungen das Mädchen treffen zu lassen. Er erzählte von der sozialen Wirklichke­it, das waren Reportagen aus der Gegenwart, der amerikanis­che Traum bekam Risse. Auch darauf wies Mick Jagger gelegentli­ch hin, dass der belesene Berry so verblüffen­de Wendungen in seine Lyrics einbaute, dass er Anspielung­en versteckte und einen doppelten Boden einzog. Klar, dass auch Bob Dylan sich auf den Songschrei­ber Berry beruft.

Anfang der 60er Jahre musste Berry für einige Monate ins Gefängnis, weil er eine Minderjähr­ige aus „unmoralisc­hen“Beweggründ­en über eine Staatsgren­ze innerhalb der USA transporti­ert hatte. Die Verehrung der jungen Beat-Gruppen bescherte Berry später jedoch eine Renaissanc­e. Er tourte viel, und das Besondere war, dass er nicht wie üblich mit eigener Band reiste, sondern an jedem Ort auf lokale Musiker zurückgrif­f. Er wies sie an, und sie fügten sich, meistens funktionie­rte es, und als er in den frühen 70ern mal in New Jersey auftrat, spielte zufällig ein junger Mann mit ihm, der sich ebenfalls die Ärmel des T-Shirts aufrollte und einige Jahre später zum Boss reifen würde: Bruce Springstee­n.

1979 nahm Berry sein letztes Studioalbu­m auf. Sein Werk wurde zum Bezugssyst­em der Popkultur, man denke nur an Michael J. Fox und seinen High-School-Auftritt mit „Johnny B. Goode“in dem Film „Zurück in die Zukunft“. Oder an Uma Thurman und John Travolta, die in „Pulp Fiction“zu Berrys „You Never Can Tell“tanzen.

Chuck Berry ist tot. Er hinterläss­t eine Welt in Farbe. Vielleicht sollte man sich kurz mal Richtung Missouri verneigen. Many thanks.

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FOTO: IMAGO So posierte Chuck Berry 1986 in St. Louis, im amerikanis­chen Bundesstaa­t Missouri, vor einem Konzert zu seinem 60. Geburtstag.

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