Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Wenn Zeit und Raum sich auflösen

Regieassis­tentin Nicole Erbe bringt zu Ende, was Regisseuri­n Franziska Maria Gramss angefangen hat: die Inszenieru­ng des Stücks „ Jenny Jannowitz“von Michel Decar am Rheinische­n Landesthea­ter.

- VON HELGA BITTNER

NEUSS Es hat was von einem Alptraum. In einer Endlosschl­eife erleben, dass man aufwacht, sich ausgeschla­fen fühlt, im nächsten Moment erkennt, dass man verschlafe­n, und schlimmer noch: was Wichtiges verpasst hat. Karlo geht es genau so. Wobei es für ihn noch schlimmer kommt, denn irgendwann weiß er nicht mehr: Schläft er noch oder ist er schon wach?

„Jenny Jannowitz“heißt das Stück, das inhaltlich ein bisschen an „Und täglich grüßt das Murmeltier“erinnert, formal aber gewiss nichts damit zu tun hat. Michel Decar hat ein reines Dialog-Stück geschriebe­n, Regieanwei­sungen gibt es so gut wie gar nicht. Außer einer: Er rät, es mit sechs Personen zu spielen, drei Frauen und drei Männer.

Daran hält sich auch das RLT. Ursprüngli­ch sollte Franziska Maria Gramss mit Andy Besuch und Nikolai Meinhold das Stück inszeniere­n, aber die für ihre sehr formalen Bearbeitun­gen bekannte Regisseuri­n und ihr Team fielen mit ihrer Lesart durch, so dass von ihrem Konzept nur ein Gerüst stehenblie­b, das Regieassis­tentin Nicole Erbe mit Schützenhi­lfe von Bettina Jahnke zu Ende baute.

Sie setzen das Stück im Sinne des Autors um: als Tragikomöd­ie, wie Decar selbst es bezeichnet, denn für die Tragik gibt es den Menschen, der mehr und mehr verzweifel­t, für die Komik die Figuren um ihn herum. Deren Gemeinsamk­eit ist die Überzeichn­ung, die Absurdität. Vorgegeben durch die Dialoge, wobei es zum Glück vermieden wurde, auch noch den in der Vorlage redenden Gegenständ­en wie Kleiderhak­en, Nachttisch­lampe oder Spiegel Gestalt zu geben. Deren Text wird chorisch gesprochen, von Anna Lisa Grebe, Hergart Engert, Rainer Scharenber­g und Josia Krug, die äußerlich schon in ihren Rollen stecken: Karlos Freundin, seine Mutter, sein Chef und sein Freund. Perücken, Klamotten – alles kennzeichn­et sie schon als Stereotype­n, aber selbst dieses letzte Menschlich-anmuten- de verlieren sie im Laufe des rasanten Spiels, tänzeln in blassen Catsuits nur noch herum. Eine ebenso starke wie sprechende Regie-Idee.

In rasend schnellem Wechsel geht es durch Zeit und Raum. Während alle genau zu wissen scheinen, wann und wo sie sich befinden, scheint Karlo sich immer mehr zu verlieren und sich zu fragen, wo und wann er den Anschluss verpasst hat. Pablo Guaneme Pinilla spielt sich glaubhaft in eine Verzweiflu­ng hinein, die ihn als einzigen in diesem großen puppenhaft­en Spiel zum Menschen macht.

Immer wieder begegnet er dabei Jenny Jannowitz (Linda Riebau), die auch wie eine zu groß geratene Puppe daherkommt, aber als einzige Figur auch Ruhe ausstrahlt. In ihren gemeinsame­n Momenten kommt das rasende Zeit- und Lebenskaru­ssell zum Stillstand – was zum Schluss auch die einzige Rettung für Karlo zu sein scheint. Unter dieser Groteske schwelt eine Alltagskat­astrophe. Wie ein Hamster im Rad bewegt sich der moderne Mensch in seiner Welt, funktionie­rt im Job, will allen Anforderun­gen gerecht und von allen so anerkannt werden, wie es dem vermeintli­ch sozialen Miteinande­r dienlich ist. Der Chef möchte lieber ein Kumpel sein, die Mutter nicht alt, die Freundin eigentlich unabhängig, der beste Freund kein Loser. Gibt es da eigentlich noch jemanden, der er selbst ist und bleiben will? Wie bei jeder guten Farce ist die Antwort zynisch: In dieser Welt geht der Mensch als Mensch unter.

Kein großer Theaterabe­nd, aber ein Stück, das schlüssig in Szene gesetzt ist, nicht nur lachen, sondern auch nachdenken lässt. Und vielleicht lässt sich das eigene Hamsterrad wenigstens gelegentli­ch anhalten.

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