Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Kraft in Neuss: Polit-Talk statt Wahlkampfrede
Ministerpräsidentin erarbeitet mit den örtlichen Kandidaten einige SPD-Positionen zur Landtagswahl.
RHEIN-KREIS Die drei SPD-Landtagskandidaten im Kreis hatten einen Kundschafterauftrag: Hinausgehen, beobachten – und berichten. So trugen Nicole NiederdellmannSiemes, Rainer Thiel und Arno Jansen die Datenbasis für eine Wahlkampfveranstaltung mit Hannelore Kraft zusammen, bei der die Ministerpräsidentin nicht als Rednerein auftrat, sondern als diejenige, die die Fragen stellt. Eine schwebte dabei über allem: Was hat das, was die Kundschafter aus den Einrichtungen und Betrieben mitbrachten, mit sozialdemokratischer Politik zu tun?
Weil Hannelore Kraft keine Rede „von oben“halten wollte, wie sie sagte, kam sie ohne Manuskript in das voll besetzte Neusser Zeughaus. Einen Zettel aber hatte sie doch dabei. Darauf hatte die Junge Union Neuss, von der eine Handvoll Wahlkämpfer vor der Tür Flugblätter verteilte, fünf Fakten zusammengetragen, die ein Versagen der Landesregierung in der Jugend-, Familienund Bildungspolitik dokumentieren sollten. Ein Faktencheck, den Kraft als Herausforderung annahm und bei dem sie – man ahnte es schon – eine ganz andere Sicht auf die Dinge präsentierte. Das gab Applaus für die Profi-Politikerin Kraft.
Die brachte auch die Gruppe afghanischer Demonstranten, die vor der Tür auf dem Freithof gegen die Abschiebung in ihr Heimatland protestierten, nicht aus dem Konzept. Ein direktes Gesprächsangebot mit Kraft hatten sie abgelehnt, harrten lieber bis zum Schluss draußen eisern aus, doch drinnen fragten andere für sie – und bekamen Antworten. Wer kein Aufenthaltsrecht hat, weil sein Asylantrag abge- lehnt wurde, der müsse das Land – Familien seien eh ausgenommen – auch verlassen, sagte Kraft, die „über diese rechtliche Entscheidung keine politische setzen will“.
Zwei große Blöcke kennzeichneten diesen Wahlkampfveranstaltung ohne Wahlkampfrede, zu der der Bundeskandidat und Kreisvorsitzende Daniel Rinkert nicht zuletzt den Neusser Bürgermeister Reiner Breuer begrüßte. Fast die Hälfte der Zeit wurden dabei die „Kundschafterberichte“diskutiert, die Thiel aus einem Handwerksbetrieb, Niederdellmann aus der Zentrale einer Wohnungsbaugesellschaft und Jansen aus einer Kindertagesstätte mitgebracht hatten. Und auch wenn Rainer Thiel, der in einer Dormagener Tischlerei an einem „Stuhl geschraubt, aber nicht gesägt“hat, zunächst „nur“berichtete, wie im Betrieb die Einführung eines Azubi-Tickets diskutiert wird, leitete Kraft daraus direkt die dazugehörige SPD-Position ab: „Es ist eine Frage der sozialen Gerechtigkeit, dass nicht nur Studenten umsonst durch das Land fahren.“Aber: Nur Stichwortgeber waren die Kandidaten nicht. Sie diskutierten – auf Augenhöhe.
Das wurde auch nicht anders, als im zweiten Teil Fragen des Publikums, die an Kraft gerichtet wurden, von ihnen beantwortet und mit ihnen besprochen wurden. Nur bei zwei Fragen ging das nicht. Die eine stellte sich Kraft selber – zu den „No-Go-Areas“, in die angeblich kein Polizist mehr seinen Fuß zu setzen wagt. „Solche Straßenzüge gibt es nicht“, stellte Kraft klar, die nur auf die letzte Frage keine Antwort wusste. „Die kommt immer“, sagte sie, die Frage nämlich nach der nächsten Koalition.