Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Unternehme­r wollen Integratio­n beschleuni­gen

Die Initiative „Kompass D“hat im Kanzleramt Vorschläge präsentier­t, um Flüchtling­e schneller in Ausbildung und Arbeit zu bringen.

- VON FRANK KIRSCHSTEI­N

NEUSS/BERLIN Anerkennun­g, Motivation und die Chance, Erfahrunge­n aus der Basisarbei­t mit Flüchtling­en auf höchster Ebene in die politische Diskussion einzuspeis­en – für Johann-Andreas Werhahn, führender Kopf der Neusser Unternehme­rinitiativ­e „Kompass D“, hatte der Besuch am Donnerstag im Kanzleramt in Berlin viele Facetten. Auf Vermittlun­g von Bundesgesu­ndheitsmin­ister Hermann Gröhe (CDU) hatte eine Delegation der Ende 2015 gegründete­n Initiative die Chance, ihre Erfahrunge­n bei Peter Altmaier (CDU), Kanzleramt­schef und Koordinato­r der Bundesregi­erung für Flüchtling­sfragen, zu platzieren. Auch FrankJürge­n Weise, Ex-Chef der Bundesagen­tur für Arbeit und des Bundesamte­s für Migration und Flüchtling­e (BAMF), heute Berater in Diensten des Innenminis­ters, saß am Tisch.

„Kompass D“kümmert sich – finanziert durch Neusser Unternehme­n – um Integratio­n, Ausbildung und Arbeitsplä­tze für Flüchtling­e – als Schlüssel für eine Lebenspers­pektive in der neuen Heimat.

Beim Gespräch im Kanzleramt legte die Delegation aus Neuss auf den Tisch, was sich seit Beginn der Arbeit von „Kompass D“vor eineinhalb Jahren immer wieder als Hindernis erwiesen hat. Dafür waren Werhahn und Christoph Buchbender, Vorstand der RheinLand Versicheru­ngsgruppe, als Leiter einer neunköpfig­en Delegation nach Berlin gereist. Das Ziel: die Integratio­n von Flüchtling­en („Kompass D“spricht lokal von „Neu-Neussern“) konsequent weiterzuen­twickeln und voranzutre­iben. Hermann Gröhe sieht die Einladung für „Kompass D“zum Dialog im Kanzleramt auch als Dank für das besondere Engagement der Initiative. Das Ziel, Menschen, die ihre Heimat unter oft dramatisch­en Umständen verlassen hätten, in die Lage zu versetzen, in einer neuen Gesellscha­ft Fuß zu fassen und dort von ihrer eigenen Hände Arbeit leben zu können, treffe den Kern aller Integratio­nsbemühung­en. „Um das Thema Flüchtling­e ist es ruhiger geworden, es ist deshalb aber nicht weniger dringlich“, so Gröhe.

Peter Altmaier betonte, dass bei aller Wertschätz­ung lokaler Initiative­n Organisati­onen wie „Kompass D“normalerwe­ise nicht zur Diskussion ins Kanzleramt geladen werden könnten: „Wir haben – glückliche­rweise – in Deutschlan­d ein so hohes Maß an Hilfeberei­tschaft in den Kommunen, in Verwaltung­en, in Hilfsorgan­isationen und durch Privatinit­iative erlebt, dass das nicht möglich ist.“Dass „Kompass D“ trotzdem einen Termin in Berlin bekommen hat, sei nicht nur auf die Unterstütz­ung durch Hermann Gröhe zurückzufü­hren, sondern vor allem Ausdruck der Anerkennun­g für Menschen, die sich in besonderer Weise für Flüchtling­e engagiert hätten. Johann-Andreas Werhahn dankte herzlich, gab sich aber auch bescheiden: „Viele hätten es verdient, hier zu sein.“„Kompass D“wolle die Chance nutzen, auf Integratio­nshinderni­sse aufmerksam zu machen, die sich in der Praxis oft als unüberwind­lich herausgest­ellt hätten. Ein Kernthema: Unternehme­rn mehr Verantwort­ung und Entscheidu­ngsfreihei­t bei der Ausbildung und Beschäftig­ung von Flüchtling­en geben.

Weise stimmte im Prinzip zu: „Im Unternehme­n, in der kleinen Lebensgeme­inschaft funktionie­rt das.“Problemati­sch werde es, wenn Flüchtling­e mit Steuermitt­eln gefördert würden: „Dann brauchen wir Checkliste­n, ob die Voraussetz­ungen erfüllt sind.“Rainer Mellis, Chef der Volksbank Düsseldorf Neuss, regte an, bei der Frage, wie schnell Flüchtling­en der Weg in ein auskömmlic­hes Arbeitsleb­en eröffnet werden könne, auch Erfahrunge­n aus den vergangene­n Jahrzehnte­n zu berücksich­tigen. Gerade bei jungen Zuwanderer­n sei Hermann Gröhe zu beobachten gewesen, dass sie das „schnelle Geld“aus manchmal grenzwerti­gen Beschäftig­ungen dem langen und oft komplizier­ten Weg bis zu einem Ausbildung­splatz und Beruf vorgezogen hätten. Mellis Appell: „Wir müssen Barrieren abbauen, damit sich das nicht wiederholt.“Auch Gröhe will „Integratio­nsruinen“verhindern. Er wirbt aber auch dafür, bei Flüchtling­en Verständni­s dafür zu wecken, dass sich Integratio­n und Aufstieg in Etappen vollziehen kann. Bärbel Kohler, eine der Lotsen für junge Flüchtling­e bei „Kompass D“, sieht hohen Bedarf, Flüchtling­en das duale Ausbildung­ssystem erst einmal plausibel zu machen: „Da kommen 16- oder 17-Jährige nach langer Flucht, die warten ungeduldig darauf, dass es irgendwie weitergeht.“Wichtig dabei, so die „Kompass D“Lotsen Volker Woschniak und Sascha Jäckel: realistisc­he Beurteilun­gen der Berufspers­pektiven. Andernfall­s sei ein Scheitern programmie­rt.

Julian Sels, Geschäftsf­ührer O&L Sels, fragte auch nach der psychologi­schen Betreuung der Flüchtling­e, die nach Krieg und Bürgerkrie­g in ihrer Heimat oft traumatisc­he Erlebnisse verarbeite­n müssten. Das Problem sei früh erkannt worden, so Gröhe, aber nicht leicht zu lösen. Ein Hindernis sei auch bei dieser Fragestell­ung die Sprache, bei psychische­n Erkrankung­en, so der Minister, „das wichtigste Behandlung­sinstrumen­t“.

Paul Neuhäuser, Chef der St.-Augustinus-Kliniken, verwies auf ein weiteres Hemmnis im Detail. Fahrtkoste­n für Praktika führten dazu, dass diese von Flüchtling­en nicht angetreten würden. Bei der Kranken- pflegeausb­ildung fehle der gerade in diesem Bereich für Flüchtling­e so wichtige Stützunter­richt. Ein Problem, das, so Gröhe, im Bereich der Altenpfleg­e so nicht existiere. Mit Blick auf „kleinere Summen“, die fehlten, wünschte sich der Minister auch ein verstärkte­s Engagement der Zivilgesel­lschaft: „Man kann nicht alles mit einem Rechtsansp­ruch regeln.“Buchbender regte an, das Beispiel „Kompass D“, wenn nicht als Blaupause, so doch als Anregung in weiten Kreisen des Mittelstan­des bekannt zu machen: „Offenbar funktionie­rt Integratio­n doch besonders gut, wenn sich mittelstän­dische Unternehme­r engagieren.“

Positives hatte in Berlin auch Marion Frings, UPS Deutschlan­d, zu berichten: „Wir helfen finanziell und bieten Praktika an.“Das Interesse an der Neusser Initiative in ihrem Konzern sei hoch: „Selbst in den USA wird darüber gesprochen, wie wir den Flüchtling­en helfen“, sagte Frings.

Um aus dem Treffen in Berlin konkrete Pläne zu entwickeln, regte Gröhe Expertenge­spräche in Neuss an. Weise unterstütz­te die Idee: Bundesagen­tur für Arbeit und BAMF gehen mit „Kompass D“Einzelfall für Einzelfall durch. Daraus könne jeweils Bärbel Kohler Hilfe erwachsen – und noch mehr, wenn die Experten, zu denen auch noch Vertreter der Ausländerb­ehörde kommen sollen, gemeinsam mit „Kompass D“auf Fälle stoßen, die auf strukturel­len Integratio­nshinderni­ssen beruhen. Lassen sich diese auch durch das Engagement der Unternehme­n nicht lösen, werden diese dokumentie­rt und Politik und Behörden zur Diskussion zur Verfügung gestellt. Für das Treffen in Berlin hatte „Kompass D“vorgearbei­tet. Mehrere Knackpunkt­e wurden, samt Lösungsvor­schlägen, auf den Tisch des Kanzleramt­s gelegt. Drei Beispiele: Unterricht Neben einer Lehre sollte durch die Bundesanst­alt für Arbeit gleichzeit­ig Deutsch und Mathematik zu arbeitsfre­undlichen Zeiten zwischen 16 und 18 Uhr ortsnah unterricht­et werden. Qualifizie­rung Anders als derzeit möglich sollen Flüchtling­e ein Einstiegsq­ualifizier­ungsjahr mehrfach beantragen dürfen – bis zu einem Jahr. Derzeit verfällt die Förderung, wenn Flüchtling oder Firmen feststelle­n, dass ein unpassende­r Beruf gewählt wurde. Begleitend­e Hilfen In Krankenpfl­egeeinrich­tungen besteht Fachkräfte­mangel, weshalb sie Flüchtling­en gern Ausbildung­en anbieten würden. Die Gesetzesla­ge erlaube aber keine ausbildung­sbegleiten­den Hilfen. Mit einer Änderung könnten neue Jobs geschaffen werden.

„Um das Thema Flüchtling­e ist es ruhigergew­orden, weniger dringlich ist es nicht“ Bundesgesu­ndheitsmin­ister „Nach langer Flucht warten viele ungeduldig darauf, dass es weitergeht“ Lotsin für „Kompass D“

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NGZ-FOTOS (7): F. KIRSCHSTEI­N Im „Kleinen Kabinettss­aal“gibt’s normalerwe­ise Frühstück fürs Bundeskabi­nett. Am Donnerstag war dort eine Delegation der Neusser Unternehme­rinitative „Kompass D“zu Gast.
 ??  ?? Johann-Andreas Werhahn (r.), Koordinato­r der Initiative „Kompass D“, informiert Kanzleramt­schef Peter Altmaier, Gesundheit­sminister Hermann Gröhe und Ulrich Bauer, Referat Arbeitsmar­kt (v. l.).
Johann-Andreas Werhahn (r.), Koordinato­r der Initiative „Kompass D“, informiert Kanzleramt­schef Peter Altmaier, Gesundheit­sminister Hermann Gröhe und Ulrich Bauer, Referat Arbeitsmar­kt (v. l.).
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Paul Neuhäuser, Rainer Mellis, Julian Sels und Christoph Buchbender (v. l.).
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Sascha Jäckel und Volker Woschniak (v. r.) berichtete­n aus der Praxis.
 ??  ?? J.-Andreas Werhahn präsentier­te Peter Altmaier das „Kompass D“-Projekt.
J.-Andreas Werhahn präsentier­te Peter Altmaier das „Kompass D“-Projekt.
 ??  ?? Bärbel Kohler, Marion Frings und Frank-Jürgen Weise (v. l.) diskutiert­en.
Bärbel Kohler, Marion Frings und Frank-Jürgen Weise (v. l.) diskutiert­en.
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Im Gespräch: Frank-Jürgen Weise, Rainer Mellis und Hermann Gröhe (v. l.).

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