Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Hannelore Kraft – von der Hoffnungst­rägerin zur Verliereri­n

Die SPD-Politikeri­n galt einst als das moderne Gesicht der Sozialdemo­kratie. Doch in den Sachthemen zeigte sie Schwächen.

- VON MARTIN KESSLER

DÜSSELDORF Die Mülheimeri­n Hannelore Kraft (55) war eines der ganz großen Talente der Sozialdemo­kratie. Sie durchlief nicht die klassische Ochsentour, sie trat erst mit 33 Jahren der Partei bei, wurde schon sechs Jahre später Landtagsab­geordnete und ein Jahr danach von Landeschef Wolfgang Clement mit dem Ministeriu­m für Europa- und Bundesange­legenheite­n geadelt.

Die Quereinste­igerin verblüffte Freund und Feind in der nordrheinw­estfälisch­en Politik. Kein Wunder, dass der gestrenge Clement-Nachfolger Peer Steinbrück die resolute Unternehme­nsberateri­n im nächsten rot-grünen Kabinett 2002 als Wissenscha­ftsministe­rin berief. Und als nach 39 Jahren die CDU mit Jürgen Rüttgers erstmals wieder den Ministerpr­äsidenten in NRW stellte, übernahm das Mülheimer Arbeiterki­nd (Vater: Straßenbah­nfahrer, Mutter: Schaffneri­n) die Rolle der Opposition­sführerin. Keiner der SPD-Granden in NRW wollte da gegen den neuen CDU-Star Rüttgers auf verlorenem Posten stehen.

Doch schon fünf Jahre später schaffte Kraft das Undenkbare. Trotz einer guten Regierungs­arbeit wurde Rüttgers abgewählt. Zwar schaffte die SPD nur 34 Prozent. Doch dank der guten Resultate der Grünen war eine Minderheit­sregierung möglich.

Hier zögerte die SPD-Chefin in Nordrhein-Westfalen lange. Sie wollte schon aus der Opposition heraus regieren. Doch die Sozialdemo­kraten in Berlin und die GrünenSpit­zenkandida­tin Sylvia Löhrmann belehrten sie eines Besseren. Mit wechselnde­n Mehrheiten schaffte Kraft einen Schulkompr­omiss und machte eine gute Figur als Landesmutt­er. „Kein Kind zurücklass­en“, hieß ihre Devise, die im traditione­ll sozial bewussten NRW voll verfing. Die SPD hatte eine neue Hoffnungst­rägerin.

Es kam sogar noch besser. Als es für den Haushalt 2012 keine Mehrheit gab, löste sich der Landtag auf, und Kraft gewann die Wahl mit fast 40 Prozent und etablierte eine rotgrüne Mehrheit. Es war der Höhepunkt in der politische­n Laufbahn der SPD-Politikeri­n: Pragmatisc­h, fortschrit­tlich, sozial engagiert und ökonomisch fundiert – in Kraft wurde die moderne Sozialdemo­kratie sichtbar. Schon wurde sie als künftige Kanzlerin der SPD gehandelt.

Doch dann kam der Bruch. Mit dem klaren Nein zu allen Kanzleramb­itionen machte sich Kraft selbst klein. Hinzu kam ihre unglücklic­he Rolle bei den Verhandlun­gen in Berlin zur großen Koalition. Vor allem in der Energiedeb­atte verlor sie den Faden. Der mächtige Chef der Energie-Gewerkscha­ft, Michael Vassiliadi­s, empfand sie nicht als Fürspreche­rin des Energielan­ds NRW. Gerade in Wirtschaft­sfragen schwä- chelte die gelernte Diplom-Ökonomin, die sich viel auf ihre wirtschaft­liche Kompetenz zugute hielt. Ob der Braunkohle­abbau schon 2030 sein Ende finden sollte oder später, wann die Kraftwerke am Niederrhei­n abgeschalt­et werden müssten oder das schon fertige Kraftwerk in Datteln eine Betriebsge­nehmigung erhalten würde – überall war die Haltung Krafts nicht eindeutig. Ist sie eine Ministerpr­äsidentin der Industrie oder der Umwelt? In NordrheinW­estfalen ist diese Frage essenziell.

An ihrem Image kratzte das zunächst nicht. In den Beliebthei­tswerten war sie stets über denen des Herausford­erers Armin Laschet (CDU). Doch auch auf diesem Feld musste sie schließlic­h Federn lassen. Die „Funkloch“-Affäre – als sie bei einem Unwetter sich verleugnen ließ – machte den Anfang. Und dass sie erst am vierten Tag auf die zahlreiche­n sexuellen Übergriffe in der Kölner Silvestern­acht 2016 reagierte, kostete sie Sympathien und Glaubwürdi­gkeit.

Kurz vor der Wahl wurde immer mehr Bürgern in NRW klar, dass ihr Land im Vergleich mit anderen in den Feldern Arbeitslos­igkeit, Wachstum, Forschung, Bildung und Armut deutlich schlechter abschnitt. Die Ministerpr­äsidentin stand plötzlich ohne Kleider da. Der Umschwung war trotzdem gewaltig und so nicht vorhersehb­ar. Denn im März sah sie wie die sichere Siegerin aus – mit dem damaligen Schulz-Effekt im Rücken. Jetzt will sie als einfache Abgeordnet­e arbeiten.

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