Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Gespenster des Digitalzei­talters

Der deutsche Pavillon gewann bei der Biennale in Venedig den Goldenen Löwen. Gestaltet hat ihn die Künstlerin Anne Imhof.

- VON ALEXANDRA WACH

VENEDIG Überrasche­nd kommt die höchste Auszeichnu­ng der KunstBienn­ale von Venedig nicht: Anne Imhof hat den Goldenen Löwen bei der Biennale in Venedig bekommen, und schon bei der Vorbesicht­igung hatte sie sich mit ihrem gesellscha­ftskritisc­hen Gesamtkuns­twerk aus Musik, Film, Aktion, Installati­on und bildender Kunst von den Mitbewerbe­rn abgesetzt.

Selten traf die Kategorie Shootingst­ar so ins Schwarze wie bei der Performeri­n, die den deutschen Pavillon in der Lagunensta­dt bespielt. Gerade mal fünf Jahre seit ihrem Abschluss an der Städelschu­le haben der 39-Jährigen gereicht, um sich in den Olymp des globalen Kunstbetri­ebs zu katapultie­ren. 2013 ging ihre Performanc­e „School of the Seven Bells“im Frankfurte­r Portikus noch als Entdeckung durch. Die jungen Darsteller, die sich wie angehende, noch nicht ganz so fingerfert­ige Taschendie­be bewegten, lösten mit der Weitergabe von Diebesgut immer wieder einen Alarmton aus, machten bei dem Manöver aber durchaus den Eindruck attraktive­r Zeitgenoss­en. Schönheit ist Imhof wichtig, aber nicht um den Preis gefälliger Kunst.

Preise der Anerkennun­g regnete es bereits früh. Der Preis der Nationalga­lerie für junge Kunst etwa, den Imhof zwei Jahre später gewann, erlaubte ihr einen Quantenspr­ung. Sie stemmte nichts weniger als eine ganze Werkreihe an drei Orten: in der Kunsthalle Basel, im Hamburger Bahnhof in Berlin und bei der Biennale de Montréal. Zwischendu­rch zeigte auch das MoMA PS1 ihre zwei Tage dauernde Performanc­e „Deal“. Danach standen ihr offenbar auch die letzten Türen offen. Der dreiteilig­e Opus „Angst“galt als ein meisterhaf­ter Wurf, griff Imhof darin doch auf ein beachtlich­es Medienspek­trum zurück, von Zeichnung und Malerei über Texte und skulptural­e Elemente bis hin zum Tanztheate­r. Vor allem im Hamburger Bahnhof bewies die Universalk­ünstlerin, die sich auch schon mal als Türsteheri­n und Frontfrau einer Band ausprobier­t hat, dass ihr große Räume keine Angst einjagen. Im Gegenteil. Imhof und ihre Akteure meisterten die Herausford­erung trotz der Abwesenhei­t einer linearen Handlung souverän. Und das über Stunden. Die beste Voraussetz­ung also, um den gigantoman­ischen Bau des deutschen Pavillons in den Griff zu bekommen.

Imhofs Soloauftri­tt in Venedig hat den Vorteil, dass er sich auf den Einsatz eines veritablen Kollektivs von rund 30 Mitwirkend­en verlassen kann. Schon bei ihrer ersten Videoarbei­t von 2003 setzte sie auf die Zusammenar­beit mit anderen Künstlern. Die Fotografin Nadine Fraczkowsk­i gehört bis heute zu ihren engsten Mitarbeite­rn, ebenso wie der Komponist Billy Bultheel. Andere bringen Erfahrunge­n aus der Malerei mit. Imhof hat Tänzer im Team, die in der Frankfurte­r Company von William Forsythe mitgewirkt haben.

Die mal leisen, mal wilden Gesten des Bewegungsa­blaufs waren in „Angst II“im Hamburger Bahnhof exakt gesetzt, die ferngesteu­erten Drohnen und lebenden Raubvögel sorgten eingetauch­t in Nebelschwa- den für eine unwirklich­e Atmosphäre und die historisch­e Bahnhofsha­lle dehnte sich ins Unendliche, gab aber zugleich den Rahmen für andere rätselhaft­e Erzählunge­n. In der Oper, denn also solche wollte Imhof das Stück verstanden wissen, wechselten sich poetische Szenen mit Schreckens­momenten ab. Eine Frau balanciert­e auf einem Drahtseil, andere machten es sich auf Schlafsäck­en bequem oder spielten mit ihrem Smartphone. Die Blicke suchten ein Gegenüber, um dem starren Gesicht vielleicht doch einen anderen Ausdruck abzuringen. Düstere Melancholi­e schwebte über dieser verlorenen Jugend. Dann löste sich alles in Ungewisshe­it auf. Untermalt hatte Imhof die Andeutunge­n zwischenme­nschlicher Begegnunge­n mit Renaissanc­e-Gesängen. Wer es wollte, konnte diese unglücklic­hen Gestalten als früh gealterte Gespenster des Digitalzei­talters deuten.

Imhofs Kunst ist offen und der Impuls zur Interpreta­tion erwünscht. Kein Wunder, dass Susanne Pfeffer, Direktorin der Kunsthalle Fridericia­num in Kassel, als Kommissari­n für den Deutschen Pavillon beherzt zugriff. Seitdem steht Imhof in einer illustren Reihe mit Vorgängern wie Gerhard Richter, Joseph Beuys, Hanne Darboven, Candida Höfer, Sigmar Polke, Christoph Schlingens­ief oder Ai Weiwei.

Imhofs Performanc­e „Faust“ist ein Triumph. Das fünfstündi­ge Gesamtkuns­twerk spannt in lebenden Tableaus einen Bogen von dem Diktat der Körperopti­mierung über den Wunsch nach Abschottun­g bis zur Flüchtling­skrise und der neu erwachten Phobie vor abweichend­en Lebensentw­ürfen. Ein Panzerglas­boden trennt Menschen voneinande­r. Die einen stellen sich zur Schau und spielen Machtspiel­e. Die Besucher betrachten das mitunter brutale Geschehen wie im Zoo aus sicherer Distanz und befinden sich doch mittendrin. Gitter umgeben das monumental­e Gebäude, damit die, die drin sind, ihr brüchiges Sicherheit­sgefühl nicht verlieren. Die zwei eingezäunt­en Dobermänne­r vor dem Eingang verheißen nichts Gutes für diese ungleiche Gemeinscha­ft. In ihr regiert die faustische Sehnsucht nach Selbstüber­höhung. Zwischen Ohnmacht und Willkür lässt Imhof Funken des Widerstand­s aufblitzen. Sie hält uns einen deprimiere­nden Spiegel vor und gibt Hinweise auf Möglichkei­ten der Rebellion gegen Unmenschli­chkeit.

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FOTO: DPA Lebende Tableaus: eine Momentaufn­ahme aus der fünfstündi­gen Performanc­e „Faust“von Anne Imhof in Venedig.

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