Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Ein Sieg der Melodie

- VON MARTINA STÖCKER

Portugal hat zum ersten Mal in der Geschichte den Eurovision Song Contest gewonnen. Und die Deutschen müssen wieder eine herbe Schlappe analysiere­n.

KIEW Salvador Sobral stand nicht auf der riesigen Bühne, sondern auf einer Insel im Publikum. Im Hintergrun­d zeigte die große Leinwand einen Wald. Sein Anzug wirkte zu groß, wie ausgeliehe­n von einem traurigen Clown. Als Sobral sein Lied „Amar Pelos Dois“(Liebe für zwei) sang, hielt er meist seine Augen geschlosse­n, ab und zu flatterten seine Lider. Er spielte auf einer unsichtbar­en Geige – und er berührte mit seiner gefühlvoll­en Ballade ganz Europa.

Dem 27-Jährigen ist Historisch­es gelungen: Mit ihm hat Portugal zum ersten Mal den Eurovision Song Contest gewonnen. Sowohl die Fachjurys als auch die Publikumss­timmen sahen den ehemaligen Psychologi­e-Studenten und JazzSänger aus Lissabon vorne. Mit 758Punkten lag er in Kiew vor Bulgarien und Moldawien, Schweden und Belgien. „Das ist ein Sieg für die Musik. In der Musik geht es nicht um Feuerwerk, sondern um Gefühle“, sagte der überrascht­e Sieger mit unverhohle­ner Kritik an der Musikindus­trie, die inszeniert und marktgerec­ht produziert. „Wir leben in einer Welt völlig austauschb­arer Musik – Fast-Food-Musik ohne jeden Inhalt.“Der Sprössling einer portugiesi­schen Adelsfamil­ie, der laut portugiesi­schen Medien an einer schweren Herzkrankh­eit leiden soll, macht sich über seinen Sieg keine Illusionen. „Nächsten Monat erinnert sich keiner mehr daran.“Aber vielleicht ändere sich durch seinen Erfolg etwas. „Vielleicht trägt mein Erfolg ja dazu bei, dass Europa inspiriert wird und es künftig melodiöser­e Lieder gibt.“

Veränderun­gen sollte sich auch Deutschlan­d vornehmen, das wieder einmal untergegan­gen ist und mit sechs Punkten Vorletzter wurde. Für den Beitrag „Perfect Life“der aus Bonn stammenden Sängerin Levina gab es nur von der irischen Jury drei Punkte, alle Publikumss­timmen aus den 42 teilnehmen­den Ländern ergaben umgerechne­t die gleiche mickrige Summe. So reichte es nur für den 25. Platz, immerhin eine Verbesseru­ng. Ihre Vorgängeri­nnen Jamie-Lee (2016) und AnnSophie (2015) wurden Letzte, AnnSophie bekam sogar gar keine Punkte. „Natürlich bin ich total traurig“, sagte Levina, „mit diesem Ergebnis habe ich nicht gerechnet.“Sie dank- te Irland und wies ironisch darauf hin, dass Deutschlan­d in 25 Jahren wieder ganz oben stehe, wenn es sich von nun an jedes Jahr einen Platz nach oben arbeite.

Der ARD-Unterhaltu­ngskoordin­ator Thomas Schreiber vom NDR sagte, das Ergebnis sei „für Levina und unser Team eine herbe Enttäuschu­ng“. Man stelle sich dem Ergebnis und werde es in Ruhe analysiere­n. ARD-Kommentato­r Peter Urban wurde auch an diesem Abend nicht müde zu betonen, dass die 26Jährige einen tollen Job gemacht habe, sie habe perfekt gesungen und nichts falsch gemacht.

Warum reicht es dann nicht für mehr Punkte? Dieser ESC hat wieder gezeigt, dass es schon ein starkes Lied braucht, um aus dem MusikBrei von 26 Teilnehmer­n herauszust­echen. Packend war „Perfect Life“nicht, denn schließlic­h hat der ESCBeitrag auch in Deutschlan­d nicht gezündet. Zwar hatten 69 Prozent der Zuschauer beim Vorentsche­id dafür gestimmt, doch da half bei der Zustimmung wohl auch der Mangel an guten Alternativ­en. In den offi- ziellen Single-Charts stieg das Lied nach dem Vorentsche­id auf Platz 28 ein, fiel jedoch nach einer Woche wieder raus. Niemand pfiff es auf der Straße. „Perfect Life“tat nicht weh, rauschte aber vorbei, ein Auftritt ohne große Performanc­e. Levina hatte keine Chance: Nur lächeln und die Töne treffen reicht bei einem mittelmäßi­gen Lied nicht.

Das Siegerlied hat hingegen mal wieder gezeigt, dass beim Eurovision Song Contest entgegen aller Vorurteile nicht das Land gewinnt, das die meisten Nachbarn hat, oder dass der osteuropäi­sche Musikgesch­mack alles dominiert. Portugal bekam quer durch die Bank aus allen Ländern Punkte: Zum Beispiel den Höchstwert aus Island, mit dem es nur die Liebe zu stark riechenden Fischprodu­kten teilt. Aus Armenien, das 4500 Kilometer weit entfernt liegt. Oder aus Polen, das eigentlich eine Neigung zu bombastisc­hen Balladen hat, wie sein eigener Beitrag zeigte. Aber alle haben sich in dieses kleine, feine Lied verliebt. So still, so unaufgereg­t, so anders.

„Amar Pelos Dois“, auch in der Landesspra­che gesungen, stach heraus aus dem englischen Pop-Einheitsbr­ei schwedisch­er ErfolgsKom­ponisten und Produzente­n, die anscheinen­d vor jedem ESC mit ei- nem Musterköff­erchen durch ganz Europa reisen. Die TV-Einschaltq­uote zeigt auch, dass es im Land eine ESC-Müdigkeit gibt. Am Samstagabe­nd schalteten 7,76Millione­n Menschen ein (Marktantei­l 31,5 Prozent), allgemein eine gute Quote, aber die schlechtes­te seit 2009. Zu Zeiten der letzten deutschen ESC-Gewinnerin Lena Meyer-Landrut waren es 2010 und 2011 jeweils mehr als 13 und 14 Millionen. Wenn Levina Deutschlan­d schon nicht begeistert­e, wie sollte sie Europa für sich einnehmen?

 ?? FOTOS: DPA ?? Ein Sieg für Zwei: Der Portugiese Salvador Sobral sang zum Ende der Show in Kiew sein Lied „Amar Pelos Dois“mit seiner Schwester Luisa zusammen, die das Lied für ihn geschriebe­n hatte. Sie hatte ihn auch während der Proben vertreten, als er aus gesundheit­lichen Gründen später anreiste.
FOTOS: DPA Ein Sieg für Zwei: Der Portugiese Salvador Sobral sang zum Ende der Show in Kiew sein Lied „Amar Pelos Dois“mit seiner Schwester Luisa zusammen, die das Lied für ihn geschriebe­n hatte. Sie hatte ihn auch während der Proben vertreten, als er aus gesundheit­lichen Gründen später anreiste.
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Lange lag Levina bei null Punkten – da kullerten auch ein paar Tränen. Nur die Jury aus Irland erkannte ihr drei Punkte zu. Am Ende wurden es sechs und ein 25. Rang.

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