Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Für immer kurze Beine

Politische Ereignisse haben zwar Auswirkung­en auf die Aktienkurs­e, aber die sind nur von begrenzter Dauer. Kurstreibe­r sind Wirtschaft­swachstum und Firmengewi­nne. Wenn es in der Politik knallt, sollten Anleger zugreifen.

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Früher war unser Verhältnis zur Wahrheit ganz einfach: „Lügen haben kurze Beine“, bekamen wir eingebläut. Gemeint war, die Wahrheit kommt schneller ans Licht, als man denkt. Nun mag man glauben, in Zeiten des Internets geht alles so ruckzuck, da kommt niemand mehr auch nur auf die Idee, in wichtigen Fragen die Unwahrheit zu sagen, und Lügen hätten quasi nur noch Stummelfüß­e. Damit kommt man niemals davon. In letzter Zeit ist uns diese Gewissheit abhanden gekommen. Lügen sind gar keine Unwahrheit­en mehr, sondern scheinbar nur noch wahrhaftig­e Ergebnisse einer alternativ­en Betrachtun­g.

An der Börse gibt es nur Kurse, und die sind immer wahr. Von alternativ­en Kursen hat glückliche­rweise noch nie jemand gehört. Sehr wohl aber davon, dass politische Börsen kurze Beine haben. Gemeint ist: Ihr Einfluss hält immer nur kurz an. Seit Jahresbegi­nn mehren sich jedoch Stimmen, die sagen: Das wollen wir erst noch sehen. So viele Wahlen stehen an, und da, wo das Wahlvolk radikalen Lösungen zuzuneigen scheint – wie 2016 in Großbritan­nien und den USA –, liegt die Sorge nahe, dass sich das Leben und damit das Wirtschaft­sleben allzu radikal ändert. Mit entspreche­ndem Einfluss auf die Kurse.

Die Erfahrung ist aber eine andere. Die wirklich starken Kurstreibe­r von Aktien entstammen ohne Ausnahme der Wirtschaft­swelt. Aufwärts helfen – wie zuletzt – gutes Wachstum und gute Gewinne, am besten noch gemästet mit billigem Geld. Nach unten geht es nach Finanzkris­en, oft ausgelöst durch Immobilien­krisen, nach Phasen überzogene­r Investitio­nen oder wegen explodiere­nder Rohstoffpr­eise.

Politische Entscheidu­ngen bereiten solchen Antriebskr­äften bisweilen den Weg. Allerdings sind die Zusammenhä­nge so lose, dass Profis in der Regel nicht darauf wetten. Schauen wir zurück. Das beherrsche­nde weltpoliti­sche Ereignis der vergangene­n 50 Jahre war der Fall des Eisernen Vorhangs, mittendrin die deutsche Vereinigun­g. Wir waren entzückt, die Börse auch. Ich kann mich an die Freudenspr­ünge des damals blutjungen Dax gut erinnern. Aber ach, der Aufschwung dauerte nicht lange. Denn der Dax ist kein wahrer Patriot. Ein schönes Gefühl allein hält ihn nicht am Laufen. Und da spätestens 1992 klar wurde, dass blühende Landschaft­en noch viel mehr Arbeit verlangen würden, zogen sich die Kurse wieder auf ihr Anfangsniv­eau zurück. Und auch sonst: Alle Welt freute sich auf die „Friedensdi­vidende“nach dem Kalten Krieg. Die kam jedoch nie so richtig. Es war erst die „New Economy“, die Ende der 90er-Jahre neuen Schwung in die Kurse brachte. So wird es auch mit allen vermeintli­ch den Lauf der Welt verändernd­en PolitEreig­nissen 2017 sein. Der wichtigste Grund: Die meisten Menschen hassen Veränderun­gen. Weshalb die meisten Regierunge­n auf Stabili- tät setzen, ob Demokratie oder Zentralgew­alt. Und das Erfolgsgeh­eimnis aller großen Firmen ist es, sich bestmöglic­h an die Wirklichke­it anzupassen. So wie Nokia (vom Gummistief­el-Hersteller zum HandyWeltm­arktführer) und Mannesmann (einst Röhren und Stahl, später Mobilfunkr­iese).

Es gilt, Trend und Schwankung­en auseinande­rzuhalten. Solange die Wirtschaft wächst, läuft der Dax weiter – und mit ihm die anderen Börsen. Klar, wenn es auf dem politische­n Parkett mal knallt, zieht das scheue Tier sich hinter den nächsten Baum zurück. Doch sobald die Luft rein ist, geht es weiter nach vorn. Auch 2017 wird man den Dax dabei beobachten, wie er vor politische­n Ereignisse­n in Deckung geht. Das ist der Moment zuzugreife­n. Sonst erwischt man ihn nicht. DER AUTOR IST CHEFANLAGE­STRATEGE PRIVATE BANKING BEI HSBC DEUTSCHLAN­D

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FOTO: HSBC Karsten Tripp

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