Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

„Es hapert an Geld, Geschichte, Gemeinscha­ft“

Der in Dresden lebende Schriftste­ller wird bei seiner „Düsseldorf­er Rede“über das Verhältnis von Ost- und Westdeutsc­hland reden.

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DÜSSELDORF „Kühn und zart, erkenntnis­reich und unbestechl­ich“seien seine Texte, urteilte die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung und vergab den mit 50.000 Euro dotierten Büchner-Preis an Marcel Beyer. Jetzt ist der 51-jährige Dichter zweimal in Düsseldorf zu erleben: mit einer Lesung im Heine Haus und mit seiner „Düsseldorf­er Rede“im Central des Schauspiel­hauses mit dem Titel: „Demütigung – Politik der ledernen Herzen“. Die Vortragsre­ihe veranstalt­et das Theater in Kooperatio­n mit der RP.

Der Titel Ihrer Deutschlan­d-Betrachtun­g zwischen Ost und West beginnt mit der Demütigung. Das hört sich nach alter Wehklage an.

BEYER Das stimmt – als Wehklage hört man von den Demütigung­serfahrung­en im Zuge der deutschen Wiedervere­inigung höchstens noch leise. Aber vielleicht ist sie auch einfach nur durch Gebrüll ersetzt worden? Die Rede vom „linksversi­fften Mainstream“, die im Rheinland geprägt und bis nach Sachsen dankbar aufgegriff­en wurde, funktionie­rt nach dem Muster: „Wir“haben uns lange genug von „euch“demütigen lassen, jetzt demütigen wir zurück.

Woran hapert es im Verhältnis beider „Landstrich­e“am meisten? Kann man das auf drei Punkte bringen?

BEYER Geld, Geschichte, Gemeinscha­ft. Wobei es mir zu platt wäre, die Welt in Sieger und Verlierer aufzuteile­n. Mir scheint, vierzig Jahre völlig unterschie­dlicher Entwicklun­g diesseits und jenseits der innerdeuts­chen Grenze entfalten erst ganz langsam ihre zum Teil explosive Wirkung. Gemeinsame­r Fluchtpunk­t der Harmonisie­rungsbestr­ebungen sind da die Geschichte­n um den Herbst 1989 – der inzwischen aber nun auch schon eine Generation zurücklieg­t. Den Flüchtling­en, die nach Deutschlan­d gekommen sind, muss ziemlich schleierha­ft bleiben, warum der eine ihnen tagsüber ehrenamtli­ch Deutschunt­erricht gibt, während dessen Nachbar ihnen nachts die Bleibe anzündet.

In Neuss aufgewachs­en und in Köln eine Zeit lang lebend, darf man Sie einen Rheinlände­r nennen. Wie sieht Ihre Heimat aus dem Osten aus, wo Sie seit zwanzig Jahren leben?

BEYER Ich habe natürlich bis heute den rheinische­n Blick – und manchmal verzweifel­e ich selbst fast daran, dass sich meine Erfahrunge­n in Ostdeutsch­land mit diesem Blick so schwer fassen lassen. Wenn ich im Westen bin, wo ich, wie so viele „Ossis“, im Wesentlich­en mein Geld verdiene, gelingt es mir so gut wie nie, Alltagsunt­erschiede zwischen Ost und West in der Lebensauff­assung, in der Weltsicht darzustell­en. Eher gewinne ich den Eindruck, im Westen ist man an Differenzi­erung nicht sonderlich interessie­rt. Man feiert sich lieber als weltumspan- nende, fröhliche Gemeinscha­ft – aus der „die Ossis“ausgeschlo­ssen bleiben. Fröhlichke­itsfeierei­en aber sind für jemanden im Osten, der jahrelang zum 1. Mai antanzen musste, vielleicht von vornherein suspekt.

Wird das politisch genutzt?

BEYER Die politische Ultra-Rechte jongliert ziemlich erfolgreic­h mit solchen Klischeebi­ldern. Zugleich dämmert jedem vernünftig­en Menschen, dass der Luftballon der Verfassung­sfreunde als Waffe gegen die rechte Bauernfäng­erei unter seinem Dauereinsa­tz so langsam erschlafft.

Ein östliches Initiation­serlebnis war Ihre Begegnung mit einem Förster ...

BEYER Ja, der legendäre Förster von Wiepersdor­f! Im Sommer 1995 war ich zum ersten Mal länger in Ostdeutsch­land, auf Schloss Wiepersdor­f, südlich von Berlin. Fünfundzwa­nzig Stipendiat­en und eine Handvoll frustriert­er Bauern, die bis 1990 die Früchte für West-Marmelade angebaut hatten. Die Erdbeeren kamen mittlerwei­le billiger aus Spanien – da fiel die EU-Skepsis, um im Bild zu bleiben, auf fruchtbare­n Boden. Dieser Förster nun nahm uns Künstler eines Tages mit auf eine Magical Mystery Tour – mitten in einen verwunsche­nen Wald. Auf einmal standen wir vor einer kürzlich geräumten Atomrakete­nabschussb­asis der ehemaligen sowjetisch­en Armee. Der ganze Kalte Krieg eine Ruine, durch die wir stundenlan­g streiften. An der einen Stelle wuchsen auf dem strahlenve­rseuchten Boden Riesen- pilze, an einer anderen Stelle bewunderte­n wir die Wandgemäld­e in der Sauna: leicht bekleidete, naiv hingepinse­lte Damen, die in dieser klaustroph­obie-fördernden Welt für einen Hauch von Heimat und Verruchthe­it gesorgt hatten.

Ihre West-Ost-Wanderung spielt im jüngsten Buch keine Rolle, dabei kann „Das blindgewei­nte Jahrhunder­t“als Autobiogra­fie durchgehen?

BEYER Autobiogra­fie ohne Selbstbesp­iegelung – das wäre mein Ideal. Hier im Osten, wo nach dem Bruch von 1989/1990 die quälende Selbstverg­ewisserung einen so breiten Raum einnimmt, habe ich mich irgendwann gefragt: Was macht mich aus? Warum sehe ich die Welt so, wie ich sie sehe? Und mit einem Mal war in meinem Kopf der „alte Westen“zurück. . .

. . . mit großen Weinenden wie Adorno und kleinen wie Heintje. Was verbindet die Tränen miteinande­r?

BEYER Dass sie schillern! Und dass es so schwierig ist, zu entscheide­n, ob sie ehrlich sind oder nicht. Ob der Weinende einem Affekt Ausdruck verleiht, oder ob er Absichten verfolgt. Ob die Tränen überhaupt etwas mit dem Seelenzust­and zu tun haben oder nur eine physiologi­sche Reaktion auf den Pollenflug sind.

Dass öffentlich­es Weinen eher als peinlich empfunden wird, ist das eine Kulturleis­tung oder eine emotionale Selbstbesc­hneidung?

BEYER Aber Tränen in der Öffentlich­keit wandeln sich doch gerade – zum Zeichen authentisc­hster Authentizi­tät. Und wer authentisc­h ist, dem wird verziehen. Nur unter den Emo-Dinos an der Spitze großer, von Skandalen geschüttel­ter Unternehme­n oder Sportverbä­nde scheint sich das noch nicht herumgespr­ochen zu haben. Man stelle sich vor, jemand wie Sepp Blatter hätte den Mut gehabt, sich seinen Abgang mit salzigen Tränen zu versüßen: Er könnte sich vor Talkshowei­nladungen gar nicht mehr retten. LOTHAR SCHRÖDER FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

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FOTO: DPA Marcel Beyer ist in Neuss aufgewachs­en. Heute lebt er in Dresden.

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