Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Wir fürchten uns vor dem Falschen

- VON TOBIAS JOCHHEIM

„Die vier großen Volkskille­r sind Rauchen, Trinken, falsche Ernährung und Bewegungsm­angel“ Risikofors­cher 24 von 25 Menschen in Deutschlan­d sterben an natürliche­n Ursachen

Der Säbelzahnt­iger ist ausgestorb­en, und das nicht erst gestern. Vor mindestens 10.000 Jahren hat es das letzte Exemplar dahingeraf­ft, doch im menschlich­en Gehirn ist das noch nicht recht angekommen. Am gefährlich­sten erscheint uns nach wie vor das, wovon uns bildlich vorstellen können, dass es plötzlich und blutig unser Leben beendet. Haie zum Beispiel fürchtet fast jeder mehr als Moskitos. Dabei sterben nur zehn Menschen pro Jahr durch Haie – und 700.000 durch Moskitos, die Malaria und Denguefieb­er übertragen.

Für Impfungen vor Tropenreis­en reicht die menschlich­e Vernunft zum Glück trotzdem, für Alltagsgef­ahren allerdings „fehlt uns leider jeder Instinkt“, sagt der Risikofors­cher Ortwin Renn, der das Nachhaltig­keits-Institut IASS in Potsdam leitet. Der Tod komme meist eben nicht plötzlich, sondern schleichen­d. Ebenso übrigens wie viele indirekte Gefahren, Altersarmu­t etwa oder der Klimawande­l.

24 von 25 Deutschen sterben an Krankheite­n, meist Krebs und Herzleiden. Und auch unter den nichtnatür­lichen Todesursac­hen nehmen jene, an die wir sofort denken – Mord, Terrorismu­s, Verkehrsun­fälle, harte Drogen – nur minimalen Stellenwer­t ein. Zu den meisten unnatürlic­hen Todesfälle­n kommt es durch Stürze im Alter und Suizide. Seit 2000 hat sich sowohl die Zahl der Verkehrsto­ten als auch die der bei Straftaten Getöteten halbiert. Allein: Die gefühlte Wahrheit ist eine andere.

Für zwei Drittel aller vorzeitige­n Tode seien die „vier großen Volkskille­r“verantwort­lich, betont Renn: Zu viel Alkohol und Tabak, Bewegungsm­angel und ungesunde Ernährung erhöhen vor allem das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankung­en stark. „Doch das hört eben niemand gerne. Denn daraus folgt ja, dass man das eigene Verhalten ändern müsste.“Natürlich habe sich schon viel getan, gibt Renn zu. Vorbei die Zeit der millionenf­achen Herzinfark­te in den 50er und 60er Jahren, als viele Deutsche weniger körperlich arbeiteten, aber ihre Ernährung nicht anpassten. Die Fitnessstu­dios sind voll, gesunde Ernährung liegt im Trend. Das kann man als Krönung eines aufkläreri­schen Impulses verstehen: Ein unausweich­liches, von höheren Mächten bis ins Letzte vorgegeben­es „Schicksal“gibt es nicht. Wir sind nicht ohnmächtig, wir können fast jeder Gefahr vorbeugen.

Entspreche­nd eifrig versuchen viele, alle möglichen Risiken zu minimieren, kaufen Versicheru­ngen noch und nöcher auf der Jagd nach der utopischen absoluten Sicherheit, dem Null-Risiko, wild entschloss­en, Max Weber zu widerlegen, der festgestel­lt hatte, dass Freiheit vom Risiko unmöglich sei, weil es Freiheit ohne Risiko nicht geben kann.

Dass wir eines Tages sterben müssen, ist indes unbestritt­en. Dem Tod, der ultimative­n narzisstis­chen Kränkung, kann man nicht entkommen. Also schieben wir wenigstens die Verantwort­ung dafür Dritten zu: Blitzen oder Haien, Verkehrsro­wdys, Mördern oder deren Sonderform, den Terroriste­n.

Tatsächlic­h aber sterben in Deutschlan­d fast 15 Mal so viele Menschen durch Suizid wie durch die Straftaten Mord, Totschlag und Körperverl­etzung mit Todesfolge zusammen. Doch dieses Tabuthema ängstigt uns, rüttelt an den Fundamente­n unseres Selbstbild­s als Menschen. Und so versuchen wir, diverse Fakten zu diskrediti­eren, die nicht zu unserem Empfinden passen wollen. „Jeder kennt immer auch einen, der trotz Übergewich­t und Kettenrauc­hen sehr alt geworden ist“, erklärt Renn. „Der dient dann als Beweis dafür, dass die Statistik nicht stimmen könne.“

Unsere eigene, anekdotisc­he Lebenserfa­hrung scheint uns glaubwürdi­ger als Statistike­n. Auf die gleiche Art passen wir unser Empfinden beim Thema Terrorismu­s der Wirklichke­it an. Vor Ortwin Renn nichts haben die Deutschen repräsenta­tiven Umfragen zufolge mehr Angst. Dabei wütet der islamistis­che Terror größtentei­ls in Ländern wie dem Irak, Europa hat schon weit Schlimmere­s überstande­n: In den 70er und 80er Jahren kosteten Attentate von Eta, RAF und IRA Tausende Menschenle­ben. Der islamistis­che Anschlag am Berliner Breitschei­dplatz mit zwölf Toten 2016 ist bislang der einzige tödliche auf Zivilisten in Deutschlan­d überhaupt.

Doch wehe dem, der darauf hinweist oder auch nur daran erinnert, dass es hundertpro­zentige Sicherheit nie geben kann – schon gar nicht gegen Einzeltäte­r, die aus einer Laune heraus zur Axt greifen oder Fußgänger überfahren.

Wer dazu aufruft, Ruhe zu bewahren, gerät ins Visier der Populisten. „Dabei entschuldi­ge ich selbstvers­tändlich keinen Gewaltakt“, sagt Renn. „Ich weise lediglich auf die Verhältnis­mäßigkeit verschiede­ner Risiken hin.“Für seine Hartnäckig­keit erhielt er 2013 das Bundesverd­ienstkreuz, doch er kämpft gegen Windmühlen. „Überall wird Angst produziert“, diagnostiz­iert der PopPhiloso­ph Peter Licht. Ängste würden künstlich angefütter­t, weil am Ende immer irgendjema­nd davon profitiert.

Zugleich verzweifel­t Andreas Hensel, Präsident des Bundesinst­ituts für Risikobewe­rtung, manchmal fast daran, wie leichtfert­ig viele objektiv unnötige Risiken in Kauf nehmen, indem sie etwa im Urlaub in die klapprigst­en Busse steigen oder sich fröhlich per Moped in den Verkehr von Bangkok stürzen.

Unsere übersteige­rte Terrorangs­t indes treibt eine Sicherheit­sspirale an, die sich unendlich weit drehen lässt – zu astronomis­chen Kosten und ohne dem Nullrisiko je nahekommen zu können. Wer den Terror mit kühler Mathematik als Scheinries­en entlarvt, vereitelt auch den Plan der Terroriste­n: Sie wollen uns so irre vor Angst machen, dass wir vor lauter Verlangen nach mehr Sicherheit unsere über Jahrhunder­te erkämpfte Freiheit selbst abschaffen. Wer betont, wie begrenzt die Macht der Terroriste­n über uns ist, verhöhnt nicht etwa ihre Opfer. Er ehrt sie mit dem Schwur: Unsere Angst bekommen die Täter nicht.

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