Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

„NRW-Votum schlecht für Thyssenkru­pp-Belegschaf­t“

Der Vorsitzend­e des Deutschen Gewerkscha­ftsbundes (DGB) über die Folgen der NRW-Wahl für Politik und Wirtschaft.

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DÜSSELDORF Obwohl er hauptberuf­lich in Berlin zu tun hat, war der Chef des Deutschen Gewerkscha­ftsbundes (DGB), Reiner Hoffmann, am Sonntag wählen. Nicht per Brief, sondern ganz klassisch im Wahllokal in Wuppertal. So hatte er die Chance, nicht nur alte Bekannte zu treffen, sondern auch gleich ein sichtbares Statement für die Demokratie zu setzen. Im Interview bewertet er den Wahlausgan­g.

Ist es geschickt, dass die SPD in NRW eine große Koalition ausschließ­t?

HOFFMANN Die SPD gesteht damit zu, dass die CDU der klare Wahlsieger ist. Für mich ist das die richtige Konsequenz.

Aber die Gewerkscha­ften müssten eine große Koalition einer schwarzgel­ben Regierung vorziehen.

HOFFMANN Die Beziehunge­n zu Schwarz-Gelb waren für uns immer extrem schwierig. Aber warten wir mal ab, wie sich Herr Laschet und die NRW-FDP positionie­ren. Noch ist das Bündnis ja nicht in trockenen Tüchern.

Sie sagen bewusst „die NRW-FDP“. Finden Sie es nachvollzi­ehbar, dass Christian Lindner die NRW-Wahl nur als Durchgangs­station für den Bund genutzt hat?

HOFFMANN Ich finde es zumindest erstaunlic­h, dass sich der FDP-Spitzenkan­didat als Ein-Mann-Armee fürs Land geriert und am Ende vor Ort gar keine Verantwort­ung übernehmen will.

Wie erklärt sich der Sozialdemo­krat Reiner Hoffmann, dass Hannelore Kraft trotz ihrer persönlich­en Beliebthei­t so krachend gescheiter­t ist?

HOFFMANN Das Thema „innere Sicherheit“hat die SPD zu sehr den anderen überlassen. Die Bildungspo­litik war ein zweiter Stolperste­in. Und letztlich auch die Verkehrspo­litik. Wobei das schon widersinni­g ist: RotGrün hat die Bautätigke­it massiv ausgeweite­t, um Fehler der Vergangenh­eit zu beheben – das merkt jeder Pendler, wenn er morgens an der Baustelle im Stau steht. Aber nur der nervige Stau bleibt leider hängen.

War diese einseitige Ausrichtun­g auf Landesthem­en geschickt?

HOFFMANN Vermutlich nicht. Aber im Nachhinein ist man immer schlauer. SPD-Spitzenkan­didat Martin Schulz muss jetzt mit Blick auf die Bundestags­wahl klare Kante zeigen und erklären, was er mit „sozialer Gerechtigk­eit“meint.

Drei schwere Niederlage­n in Folge. Der Schulz-Effekt ist verpufft. Muss er überhaupt noch antreten?

HOFFMANN Moment mal! Martin Schulz hat gute Chancen, nächster Bundeskanz­ler zu werden. Bis zum 24. September ist ja noch Zeit. Die muss die SPD nutzen, um schnell noch mehr an Kontur zu gewinnen.

Mit welchen Themen gelingt das?

HOFFMANN Ich denke da an die Zukunft der Europäisch­en Union.

Im Ernst? Nach dem Sieg des Pro-Europäers Emmanuel Macron in Frankreich sind doch die Sorgen um das Auseinande­rbrechen der EU vom Tisch. Sollten die Wahlkämpfe­r nicht lieber auf die Innenpolit­ik setzen?

HOFFMANN Im Gegenteil. Das Ergebnis in Frankreich hat uns allenfalls etwas Zeit verschafft. In den kommenden Monaten müssen die EU-Mitglieder unter Beweis stellen, dass die Währungsun­ion funktionie­rt. Wir brauchen massive Investitio­nen, damit Beschäftig­ung geschaffen wird. Der CDU fällt dazu aber im Augenblick nicht mehr ein, als pausenlos auf der Bremse zu stehen.

Trotzdem interessie­rt den Wähler zunächst, was vor der eigenen Haustür passiert. Die Rekordbesc­häftigung dürfte dazu führen, dass sich mit dem klassische­n Gewerkscha­ftsthema „soziale Gerechtigk­eit“kein ordentlich­er Wahlkampf gestalten lässt.

HOFFMANN Der Eindruck, wir lebten auf einer Insel der Glückselig­en, täuscht. Trotz guter Arbeitsmar­ktsituatio­n machen sich die Menschen Sorgen um die Zukunft ihrer Kinder und um die Zukunft ihrer eigenen Jobs – Stichworte sind hier Digitalisi­erung und Globalisie­rung, deren Folgen den sozialen Zusammenha­lt gefährden können. Da müssen die Wahlkämpfe­r ansetzen.

Was genau fordert der DGB?

HOFFMANN Die Tariffluch­t muss gestoppt werden. Deshalb ärgert es mich maßlos, wenn der aus NRW stammende Finanzstaa­tssekretär Jens Spahn von der CDU mal eben per Handstreic­h das Tariftreue- und Vergabeges­etz in NRW abschaffen will. Das zeigt, welch rauer, neoliberal­er Wind hier unter Schwarz-Gelb demnächst im Land wehen könnte. Wir reden hier über einen Bereich mit einem Auftragsvo­lumen von 50 Milliarden Euro im Jahr. Wer sichere, tarifgebun­dene Arbeit haben möchte, der darf nicht den Apologeten des ungezügelt­en Marktes aufsitzen.

Welche weiteren Themen wollen Sie für die Bundestags­wahl besetzen?

HOFFMANN Wir erwarten einen Kurswechse­l bei der Rentenpoli­tik, die Wiedereinf­ührung der paritätisc­hen Finanzieru­ng der Krankenver­sicherung und ein gerechtere­s Steuermode­ll. Die kalte Progressio­n muss abgeschaff­t werden, zugleich sollten die oberen Einkommen stärker besteuert werden. Die Reichenste­uer darf nicht erst bei einem Einkommen von 250.000 Euro ansetzen, sondern bereits ab 125.000 Euro.

Blicken wir noch einmal zurück nach NRW. Die Grünen wurden abgestraft, unter anderem weil sie als wirtschaft­sfeindlich gelten. Teilen Sie diese Einschätzu­ng?

HOFFMANNWe­nn der grüneUmwel­tminister Johannes Remmel kurz vor der Wahl fordert, zehn Kohlekraft­werke abzuschalt­en, und die Beschäftig­ten wie die Region damit alleine lässt, dann muss sich seine Partei nicht wundern, wenn der Wähler das nicht goutiert. Die Grünen sind gut beraten, statt auf Aktionismu­s und Maximalfor­derung auf eine praxistaug­liche Energiepol­itik zu setzen.

Welche Folgen hat das NRW-Wahlergebn­is Ihrer Ansicht nach für die Fusionsges­präche zwischen Tata Steel und Thyssenkru­pp?

HOFFMANN Ich habe die große Sorge, dass sich die neue Regierung hier nicht deutlich genug positionie­rt. NRW benötigt den Stahl. Das darf man nicht leichtfert­ig aufs Spiel setzen. Eine SPD-geführte Regierung hätte sich wohl deutlich stärker für den Erhalt dieser wichtigen Industrie-Arbeitsplä­tze eingesetzt. Von einer Regierung, an der die marktgläub­igen Liberalen beteiligt sind, erwarte ich ein wesentlich geringeres Engagement für diese zentrale Branche in NRW. Das ist eine schlechte Nachricht für die Thyssenkru­pp-Beschäftig­ten. M. PLÜCK FÜHRTE DAS INTERVIEW.

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FOTO: END Reiner Hoffmann ist seit 2014 Chef des DGB. Er stammt aus Wuppertal.

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