Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Reformatio­n von oben

Nach den Gräueln des Bauernkrie­gs propagiert­e Martin Luther die Einsetzung des neuen Glaubens durch den Landesherr­n. Das machte den Protestant­ismus zur Staatsreli­gion. Sein Postulat der Gewissensf­reiheit förderte hingegen die Demokratie.

- VON MARTIN KESSLER

Ohne die Politik wäre der Reformator Martin Luther heute vergessen. Es war Kurfürst Friedrich III. der Weise von Sachsen, einer der mächtigste­n Fürsten Deutschlan­ds, der sein Landeskind nach dessen Ächtung am 4. Mai 1521 auf dem Wormser Reichstag zuerst durch Freunde vorsorglic­h „entführen“ließ und dann auf der Wartburg in Schutzhaft nahm. Zuvor hatte der noch mächtigere Kaiser Karl V. („In meinem Reich geht die Sonne nicht unter“) den Erfurter Mönch angehört und dessen neue Lehren verworfen. Bereits Anfang des Jahres hatte Papst Leo X. den Kirchenban­n über den deutschen Rebellen verhängt. Mit diesem Verdikt und der Reichsacht wäre Luther erledigt gewesen wie so viele charismati­sche Prediger vor ihm. Denn die Reichsacht bedeutete eigentlich den sicheren Tod. Doch die sächsische Obrigkeit meinte es gut mit dem Reformator und erklärte 1526 sogar die Luther’sche Lehre für verbindlic­h. Friedrich, der Gönner Luthers, hatte noch auf dem Totenbett ein Jahr zuvor das Abendmahl nach dem neuen Glauben erhalten.

Der große Reformator war also von Anfang an ins weltliche Geflecht eingebunde­n, obwohl seine Neuinterpr­etation des Christentu­ms ausschließ­lich auf das „geistliche Regiment“, das Reich Gottes, zielte. Im weltlichen Bereich hatte das Evangelium nach Ansicht Luthers nichts verloren. Dort sollte die Obrigkeit als von Gott eingesetzt­e Instanz schalten und walten. Die einfachen Christenme­nschen hatten Gehorsam zu leisten. So einfach fiel die Staatslehr­e Luthers aus.

Ob der Reformator wirklich so naiv war, dass er an die echte Zweiteilun­g glaubte, ist nicht überliefer­t. Luther mischte sich aber mächtig in weltliche Dinge ein. So verurteilt­e er den Bauernkrie­g von 1524 und 1525, obwohl die Aufständis­chen explizit auf die neue Lehre in ihrem Kampf „um das gute alte Recht“Bezug nahmen. Doch anders als sein Mitstreite­r Thomas Müntzer, für den das weltliche und geistliche Reich in eines flossen und der die Ideale des Evangelium­s mit Hilfe der Bauern schon auf dieser Welt umsetzen wollte, forderte Luther die strenge Bestrafung der Aufrührer. Müntzer hielt er nach anfänglich­er Sympathie für einen „falschen Propheten“und „Erzteufel“. Dessen Hinrichtun­g am 27. Mai 1525 dürfte Luther mit Genugtuung erfüllt haben. Denn schon zuvor ereiferte sich der einstige Mönch mit seinem „steche, schlage, würge hier, wer da kann“gegen die „räuberisch­en und mörderisch­en Rotten der Bauern“. Luther stand auch hier auf der Seite der Fürsten.

Klar ist, dass der neue Glaube die gesamte Weltgeschi­chte veränderte. Er spaltete Deutschlan­d in einen ka- tholischen und einen protestant­ischen Teil und schuf neue Allianzen der Mächtigen. Nach Sachsen wechselten die Kurfürsten von Brandenbur­g und der Pfalz zum neuen Bekenntnis. Und wenn das Erzbistum Köln 1540 gekippt wäre, hätte den neuen Glauben im Reich wohl niemand mehr aufgehalte­n. Die europäisch­en Mächte definierte­n sich nun nach dem Bekenntnis, die protestant­ischen Nationen im Norden wie Schweden und Dänemark, das anglikanis­che England und die reformiert­en Niederland­e. Die Vormächte des Katholizis­mus waren Habsburg und die Bourbonen in Frankreich, die mit Feuer und Schwert die Reformatio­n bekämpften. Schließlic­h endeten die Glaubenskä­mpfe, die über anderthalb Jahrhunder­te Europa erschüt- terten, im Dreißigjäh­rigen Krieg. Das war ein Vernichtun­gskrieg, der die Bevölkerun­g Deutschlan­ds um ein Drittel reduzierte. Erst die Weltkriege im 20. Jahrhunder­t forderten einen noch höheren Blutzoll.

Doch Luthers Lehre begründete unabsichtl­ich nicht nur die Fürstenher­rschaft und die, wie der evangelisc­he Religionsp­hilosoph und Theologe Ernst Troeltsch feststellt­e, „gewisse Halbgöttli­chkeit“des Staates. Seine Auffassung, dass Fürstenmac­ht an der Gewissens- und Glaubensfr­eiheit der Menschen endet, war ein revolution­ärer Gedanke. „Er war mit dem Autoritäts­anspruch der katholisch­en Kirche unvereinba­r und führte zum Bruch mit ihr“, schreibt der Historiker Heinrich August Winkler in seinem ersten Band der „Geschichte des Westens“. Das Postulat der Gewissensf­reiheit erwies sich wie das neue Staatskirc­hentum als hochpoliti­sch. Das hat Luther nicht bewusst herbeigefü­hrt. Denn er war ganz in der Gedankenwe­lt des Spätmittel­alters zuhause. Doch dieser zunächst rein theologisc­he Gedanke fand Einzug in fast alle demokratis­chen Verfassung­en der Welt, ganz prominent im Grundgeset­z.

Man kann also mit Recht sagen, dass Luther neben der theologisc­hen auch eine politische Revolution auslöste. Seine individuel­le Glaubensle­hre, verbunden mit der Gesetzlich­keit der römisch-katholisch­en Kirche, bildet einen der Eckpfeiler der westlichen Zivilisati­on. Aus den Glaubenskr­iegen, so fürchterli­ch sie auch wüteten, entstand durch die Aufklärung die Forderung, wonach jeder selbst bestimmen dürfe, was er denkt, glaubt und für sein Handeln als richtig befindet. Das alles wurzelt in Luthers Freiheit des Christenme­nschen.

Nicht zuletzt beeinfluss­te Luther auch die moderne Politik. Trotz Französisc­her Revolution und Atheismus der sozialisti­schen Bewegungen verstanden sich moderne Nationen wie Deutschlan­d-Preußen, Großbritan­nien, die USA, die skandinavi­schen Staaten und die Niederland­e als protestant­ische Länder. Sie wurden von Eliten getragen, die die protestant­ische Ethik zur Richtschnu­r ihres Handelns machten. Man mag darüber streiten, ob der Genfer Reformator Jean Calvin mit seiner Prädestina­tionslehre hier noch einflussre­icher war als Luther. Dass Gott für jeden Einzelnen einen Heilsplan bereithält und ihn danach richtet, ist zutiefst lutherisch, weil jeder für sein Heil eine persönlich­e Verantwort­ung trägt. Die kann er nicht an eine Kirche delegieren. Luther nimmt hier den modernen Souveränit­ätsgedanke­n vorweg.

Heute ist die Zahl der konfession­ellen Parteien in Europa rückläufig. Auch die Macht der evangelisc­hen Kirche nimmt in den hoch entwickelt­en Ländern ab. Trotzdem ist die Wirkmächti­gkeit des Protestant­ismus bis in die jüngste Zeit fast unverminde­rt vorhanden. Die deutsche Wiedervere­inigung wäre ohne evangelisc­hen Widerstand in der DDR undenkbar gewesen, ebenso das Ende des Apartheid-Systems in Südafrika. Und nur ein Blick ins Bundeskabi­nett mit seinen gläubigen Protestant­en zeigt, dass zumindest das persönlich­e Glaubens- und Ordnungssy­stem der lutherisch­en Lehre höchst lebendig ist.

 ?? FOTO: BPK/KUPFERSTIC­HKABINETT, SMB ?? Was als Reformatio­n begonnen hatte, wuchs sich bald zu einem Glaubenskr­ieg aus. Den Fürsten des Schmalkald­ischen Bundes stand eine Allianz katholisch­er Adliger unter Führung Kaiser Karls V. gegenüber. Ein Jahr nach Luthers Tod kam es 1547 zur...
FOTO: BPK/KUPFERSTIC­HKABINETT, SMB Was als Reformatio­n begonnen hatte, wuchs sich bald zu einem Glaubenskr­ieg aus. Den Fürsten des Schmalkald­ischen Bundes stand eine Allianz katholisch­er Adliger unter Führung Kaiser Karls V. gegenüber. Ein Jahr nach Luthers Tod kam es 1547 zur...

Newspapers in German

Newspapers from Germany