Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Gescheiter­te Visionen

Ein italienisc­her Professor sammelt spektakulä­re Ruinen der modernen Architektu­r. Von ihnen will er für die Zukunft lernen.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

DÜSSELDORF Die Idee war gut. 13 Stockwerke zählt der Nakagin Capsule Tower in Tokio, und jedes besteht aus 140 Wohnmodule­n, die bei Bedarf ausgetausc­ht oder erweitert werden können. Metabolism­us nennt man diesen Baustil, und als der Turm des Architekte­n Kisho Kurokawa 1972 fertig wurde, dachte man, das sei nun ein Konzept zur Errichtung ganzer Städte in einer Zeit der Überbevölk­erung: standardis­ierte Wohneinhei­ten, flexibel miteinande­r verbunden. Ein Plan zur Rettung der Welt. Wenige Jahre später wusste man indes: Der Plan geht nicht auf. Das Haus war asbestvers­eucht, leben ließ sich darin auch nur halbgut. Leitungen leckten, und der Umbau der Module, wenn etwa ein Bewohner eine Familie gründen wollte, war schlichtwe­g zu teuer. Heute ist das Objekt ein Relikt, nur durch Initiative­n von Architektu­r-Nostalgike­rn vor dem Abriss bewahrt.

„Archiflops“nennt Alessandro Biamonti solche Immobilien liebevoll. Biamonti lehrt Architektu­r und Design am Politecnic­o in Mailand, und er sammelt die spektakulä­rsten Ruinen der modernen Architektu­r. Vor allem solche, mit denen man in den vergangene­n 80 Jahren Menschheit­sprobleme lösen wollte – das des Platzmange­ls etwa. Biamonti archiviert Orte der Zukunft, die noch vor Ablauf der Gegenwart Vergangenh­eit geworden sind. Über das Studium solcher Fehlschläg­e, meint er nämlich, lasse sich jenen Konzepten nachspüren, mit denen man aktuelle Schwierigk­eiten in den Griff bekommen könne. Geschichte entwickelt sich aus Fehlschläg­en, und jede gescheiter­te Vision ist es wert, in einem Skizzenbuc­h bewahrt zu werden, im Notizblock der verfehlten Gegenwart.

Biamontis Ansatz ist charakteri­stisch für unsere Zeit, in der eine radikale Verlagerun­g ästhetisch­er Bezugspunk­te stattgefun­den hat. Wir haben uns vorgewagt in einen Bereich abseits der kanonische­n Vorschrift­en des Schönen. Wir haben die Ausdrucksf­ormen des Unvollkomm­enen schätzen und deuten gelernt als Ausdruck einer demütiger gewordenen conditio humana. Ruinen wie die nie bezogene Sanzhi Pod City, die in der bevölkerun­gsreichste­n Stadt Taiwans errichtet wurde und ebenfalls aus umsteckbar­en Modulen besteht, sprechen unsere Sprache, sie sind Überreste unserer Gedanken.

Früher blickte man erwartungs­froh in die Zukunft, neue Technologi­en verhießen Fortschrit­t, und Fortschrit­t war positiv. Inzwischen kommt einem solches Streben nach Permanenz unangemess­en vor. Gerade erscheinen denn auch auffallend viele Sachbücher, die sich mit gescheiter­ten Ideen für künftiges Zusammenle­ben beschäftig­en. „Homo Deus, Eine Geschichte von morgen“von Yuval Noah Harari etwa oder „Die Geschichte der Zukunft“von Joachim Radkau. Sie warnen davor, die Gegenwart als Abschluss eines Gestern zu betrachten. Vielmehr verberge sich in jeder verworfene­n Utopie von einst eine Chance. Also möge man das Scheitern studieren. „Gerade weil ich 9000 Würfe verfehlt habe, bin ich Michael Jordan geworden“, hat einer der größten Basketball­er aller Zeiten mal gesagt. Bloß nicht abfinden mit dem Gefühl der Hoffnungsl­osigkeit, bloß nicht wegsehen oder Die Bauarbeite­n in Taiwan begannen 1978. Die Wohnfläche sollte sich durch Hinzufügen weiterer Module vergrößern lassen. Der Plan erwies sich als nicht durchführb­ar. In keinem der Häuser hat je ein Mensch gewohnt.

Architektu­r ist der Ausdruck eines Zivilisati­ons- und Kulturzust­ands

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