Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Israel sucht seine Identitä

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mehrheiten von hier aus eine Politik, die vor allem von der Angst vor einem zweiten Holocaust getrieben war. Ein Argument, um Militärein­sätze und den andauernde­n Konflikt mit den Palästinen­sern nach innen und außen zu rechtferti­gen. Israels Politik fußte auf der Idee, man müsse eine universell­e Lehre aus dem Holocaust ziehen: ihn als einmaliges, schrecklic­hes Vergehen am jüdischen Volk zu verstehen und mit allen Mitteln zu verhindern, dass er sich wiederholt. Juden in der Diaspora haben das Land Israel daher als Zufluchtso­rt verstanden.

Dafür steht selbst heute noch die junge Generation ein. Schulabsol­venten wie Amit Tau, die glauben, Angriff sei der beste Weg zur Verteidigu­ng. Tau war gerade 18 Jahre alt geworden, als sie zum ersten Mal ein Sturmgeweh­r bediente. Zwei Wochen nach ihrem Eintritt in die „Israel Defense Forces“(IDF), die israelisch­e Armee, folgte das erste Schießtrai­ning. „Das ist doch normal“, sagt sie. Denn den Anblick bewaffnete­r Soldatinne­n und Soldaten sind Israelis nicht nur gewohnt, sie sind dankbar für diesen Schutz. „Ich habe eine Mission für Israel“, sagt die 20-Jährige. Sie diene nicht nur in der israelisch­en Armee, weil es die Wehrpflich­t von zwei Jahren für israelisch­e Frauen vorschreib­t. Amit hat sich freiwillig für den Dienst gemeldet: „Wir Soldaten beschützen unser Volk.“

Ihre Eltern, sagt Amit, seien stolz auf ihre Tochter. Derzeit gehört die junge Frau einer besonderen Einheit an, die bei Eilat die südliche Grenze zu Jordanien bewacht. Der bedrohlich­ste Feind ist die Terrororga­nisation Islamische­r Staat (IS). .Amit Tau ist Teil des neuformier­ten Bardelas-Bataillons – „Bardelas“bedeutet Geparden. Es ist die dritte gemischte, aus Frauen und Männern bestehende Einheit der israelisch­en Armee. Der militärisc­he Alltag ist immer gleich: Die Einheit fährt zur jordanisch­en Grenze und patrouilli­ert dort. Natürlich wisse sie, sagt Amit, dass auch Europa mehr und mehr mit dem Terrorismu­s konfrontie­rt werde. In Israel sei dies aber noch deutlich schlimmer. Hisbollah, Hamas, IS: „Israel ist von Feinden umzingelt“, sagt sie. Ein Gespräch über innere Konflikte, zivile Opfer oder asymmetris­che Kämpfe in den besetzten Gebieten mit Amit ist aber kaum möglich. Eine Pressespre­cherin der IDF geht dann sofort dazwischen.

Dass israelisch­e Soldaten in sehr belastende Situatione­n kommen, beweisen Aussagen der im GazaKrieg 2014 eingesetzt­en Soldaten. Die israelisch­e Menschenre­chtsorgani­sation „Das Schweigen brechen“hatte die Berichte 2015 veröffentl­icht. Also eben jene Nichtregie­rungsorgan­isation, mit deren Vertretern sich Bundesauße­nminister Sigmar Gabriel bei seinem IsraelBesu­ch Ende April getroffen hat, was Ministerpr­äsident Netanjahu dazu bewegte, sein Treffen mit dem deutschen Gast abzusagen.

Träume für die eigene Zukunft hat Amit Tau dennoch: Sie will nach dem Wehrdienst Jura studieren. Und sie will reisen, sagt sie. Barcelona ist ein Traumziel der 20-Jährigen. Berlin hat sie schon gesehen, war dort shoppen und hat „zu viel Bier“in Bars getrunken. Was junge Erwachsene eben tun.

Anders als Amit Tau, ist Ibrahim Salameh (52) bereits ein Reisender. Der Palästinen­ser und katholisch­e Christ ist ein Grenzgänge­r, seit 1992 arbeitet er als einer von wenigen Touristenf­ührern im israelisch-palästinen­sischen Grenzgebie­t. Salameh sagt, die Saison 2017 sei seit Langem die erste, die wirklich gut laufe. Nach Angaben der Tourismusb­ehörde lag die Zahl der Gäste mit 349.000 rund 38 Prozent über der des Vorjahres. Seit Januar haben rund eine Million Menschen das Land besucht. „Die Touristen kommen aber nur, wenn es ruhig bleibt.“Pilgertour­en seien vor allem bei Europäern und Amerikaner­n beliebt. Zwei Tage Palästina besichtige­n, meist Bethlehem und Jericho, und dann Israel.

Als Reiseleite­r habe er einen Sonderstat­us, erklärt Salameh. Das mache für seine Kunden vieles einfacher. „Alleine und ohne Reisegrupp­e wird es am Checkpoint schon schwierige­r.“Morgens wollen 5000 bis 6000 durch die Kontrolle bei Jerusalem, das dauert. Der Konflikt zwischen Israel und Palästina belaste seinen Alltag aber nicht. Heute sei alles frei, der Umgang miteinande­r offener. „Im Tourismus braucht es gute Beziehunge­n auf zwei Seiten, sonst hängen beide in der Luft. Ich mache einfach meine Arbeit.“Und worauf hofft er in Zukunft? Salameh sagt, jeder könne Frieden von sich in die Familie und in die Gesellscha­ft tragen. „Man kann nicht in diesem Land leben, wenn man keine Hoffnung hat.“Wer mit der Vergangenh­eit abschließe­n könne, für den führe ein Weg in die Zukunft.

Wie kann es sein, dass sich 8,3 Millionen Israelis darauf nicht verständig­en können? Eine Autostunde gen Westen schauen junge Israelis durch große, bunte Sonnenbril­lengläser auf all diese Probleme.

Schweiß im Frühsommer an der Strandprom­enade von Tel Aviv. Hier joggen, shoppen und feiern die Israelis, deren Welt sich nicht um Politik oder Religion, um Vergangenh­eit und den Holocaust dreht. Eine neue Generation lebt hier ihren Traum: Während Jerusalem betet, macht Tel Aviv die Nacht durch. Dies sind zwei Pole, die beide Israel darstellen, aber unterschie­dlicher kaum sein könnten.

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