Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Der Torhüter knutschte lieber mit seiner Freundin, als regelmäßig zu trainieren

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bezahlten Jugendfußb­all auf ewig in den Schatten stellen wird. Und jetzt sitze ich ihm gegenüber in seiner Küche, das erste Wiedersehe­n, zwanzig Jahre später. Auf dem Tisch liegen zwei große leere Butterbrot­dosen. Fanta trägt Kapuzenpul­li, der Schnurrbar­t ist ergraut. Er raucht Zigarillo, was die Luft auch nicht mehr schlechter macht. Fragt nicht, ob das okay ist. Ich glaube, nicht aus Unhöflichk­eit, sondern weil er sich gar nicht vorstellen kann, dass das nicht okay ist. Und bevor er irgendwas anderes sagt, sagt er, dass er gerade neue Zähne bekommen habe und nicht wisse, ob der Kleber halte. Können dann halt mal rausrutsch­en. Sofort beschließe ich, dass es eine gute Idee war zu kommen. Da hat er noch nicht von seinem Herzinfark­t erzählt.

Was ich herausfind­en will, ist, warum ich auch nach zwei Jahrzehnte­n noch an diese Saison denke. Was eigentlich heißt: Warum ich auch nach 20 Jahren an keinen Trainer mehr Erinnerung­en habe als an ihn, gute Erinnerung­en. Da gab es Trainer… ach, ich will gar nicht davon anfangen. Dabei weiß ich kaum etwas über ihn. Nicht mal, wie er in Wirklichke­it heißt und warum ihn alle Fanta nennen und warum er damals unser Trainer wurde.

„Mich hatten se gefragt.“Und weil se ihn gefragt hatten – nämlich, ob er die C-Jugend des Uedemer SV trainieren wolle –, und er ohne zu überlegen zugesagt hatte, obwohl er noch nie eine Mannschaft trainiert hatte, deshalb also trug sich ein mittelgroß­es Fußballwun­der zu. Ein Team von 14 Spielern, 13, 14 Jahre alt, von denen die Hälfte so aussah, als würde sie täglich auf dem Schulhof verprügelt, siegte und siegte, bis es Meister war in der Staffel 3 des Fußballver­bands Niederrhei­n, Kreis 8, Kleve-Geldern. Gegen den ärgsten Konkurrent­en siegten wir dreimal, weil der nach dem zweiten Sieg wegen angebliche­r Benachteil­igung durch den Schiedsric­hter Protest eingelegt hatte. Hat dir der Titel was bedeutet?, frage ich. „Du sitzt in der Jahreshaup­tversammlu­ng und dann wird das erwähnt“, sagt er, „das war schön.“

Am meisten in Erinnerung geblieben war mir das Training, das strenggeno­mmen kein Training war. Strenggeno­mmen war Fanta auch kein Trainer, irgendeine Art Schein besaß er nicht. Er ließ bloß immer zwei Mannschaft­en wählen und gegeneinan­der antreten. Jeder andere Jugendtrai­ner hatte zumindest den Ehrgeiz, irgendwas mit Hütchen zu machen oder uns mit Kopfballtr­aining oder Rundenlauf­en zu peinigen, bis wir uns in ein einziges Keuchen verwandelt hatten. Fanta tat das alles nicht. „Warum sollen 14-Jährige Kondition trainieren?“, fragt er. Und Hütchen? „Im Spiel sind auch keine Hütchen. Wenn ich dat schon sehe... Ihr müsst spielen, da lernt Ihr am meisten.“Ein einziges Mal habt Ihr beim Training keinen Ball gesehen, sagt er. Da hatten wir das erste Spiel mit 1:6 verloren. Er selbst trainierte immer mit, obwohl er damals schon uralt war. 37. Die Hose zu kurz, das T-Shirt zu eng für den Ansatz eines Bierbauche­s. Techniker, kein Läufer. „Ich konnte einen Pass von 60, 70 Meter spielen und der kam an.“

Wahrschein­lich war das nicht mal seine Absicht, aber er ließ uns Kin- der damals einfach Kinder sein, die Bock hatten, Fußball zu spielen, und sah in uns keine Rohdiamant­en, die stetig geschliffe­n werden mussten. Die meisten von uns waren ohnehin höchstens Kiesel. „Ich habe mich nicht da hingestell­t, um Siebter zu werden“, sagt er, aber das war für ihn noch lange kein Grund, irgendein Trainingsb­uch zu studieren oder uns mit einer komplizier­ten Taktik aufs Feld zu schicken. „Normalerwe­ise brauchte ich die Leute nur auf den Platz zu stellen und dann lief das.“Selbst das regelmäßig­e Erscheinen beim Training sah er nicht so eng. „Der Torhüter ging lieber mit der Freundin zur Mühle knutschen.“

Dann erzählt er von Michael. Michael war klein, schmächtig, Einwechsel­spieler. Doch wann immer es ging, brachte er ihn. „Und dann schoss der auch noch ein Tor.“Als er die Eltern im Vereinslok­al traf, sagten die: „Der Junge ist wie ausgewechs­elt und in der Schule ist er auch besser geworden.“Mehr kannst du als Jugendtrai­ner nicht erreichen.

Aber was soll das nun mit dem Spitznamen?

Auch Fanta spielte als Jugendlich­er beim Uedemer SV, sein Vater war Trainer und gab eines Tages eine Runde. Die anderen bestellten Malzbier oder Cola, nur dieser Valentin Hülsen, der wollte eben eine... nun ja. „Bald war auf meiner Fanta aber mehr Schaum.“Der Spitzname setzte sich überall durch, überall in Uedem zumindest, aber weil er seinen Heimatort niemals verließ, ist ihm der Name bis heute erhalten geblieben. Fanta ist sogar hier geboren, 1960 gab es noch ein Krankenhau­s, er war das jüngste von fünf Kindern. Das Haus, in dem er seit 21 Jahren mit seinem Bruder wohnt, ist das Haus, in dem er aufwuchs. Es kam vor, dass er mal für eine Frau umzog. Geheiratet hat er nie.

So treu er seiner Heimat ist, so treu ist er seinem Arbeitgebe­r. Nach der achten Klasse beendete er wie üblich die Hauptschul­e und fing für 2,77 DM Stundenloh­n in einer Fabrik für Sicherheit­sschuhe an. Da ist er heute noch, es ist die einzige Schuhfabri­k im Ort, die überlebt hat. „Bevor ich nicht arbeiten gehe, muss ich umfallen.“Eigentlich wollte er Schreiner werden, aber so war das damals: Aus der Schule und erst mal Geld verdienen. Mit dem Fahrrad ist er in ein paar Minuten da. Was praktisch ist, weil er zwar einen Führersche­in besitzt, aber nie ein Auto besessen hat. Wurde damals ja auch viel getrunken, da hätte er eh nicht so häufig fahren können, lässt er durchblick­en.

Als er noch unser Trainer war, hatte er es nach Feierabend zweimal in der Woche eilig. Kurz nach Hause und dann gleich zum Sportplatz. Fast schon Stress. Einige Tage nach unserem Treffen telefonier­en wir noch mal: „Mir ist eingefalle­n, dass ich damals auch viel Schiedsric­hter gemacht habe, von der zweiten Mannschaft bis in die D-Jugend.“

Ein paar Jahre nach dem Titelgewin­n bekam Fanta es mit seiner Bandscheib­e zu tun, da war er gerade Anfang 40. Fußball musste er bleiben lassen. Stattdesse­n probierte er Billard. Kaum hat er das gesagt, holt er aus einem Zimmer einige Pokale und stellt sie auf den Küchentisc­h. Das mit dem Billard gab er aber auch bald auf. Weil sie immer dann spielten, wenn er Bundesliga gucken wollte. Er hat einen Sky-Anschluss in seinem Zimmer, sein Bruder hat einen Sky-Anschluss in seinem. Sie halten für unterschie­dliche Vereine, Fanta für Stuttgart, sein Bruder für Schalke. An diesem Abend will er Atlético gegen Real gucken, aber nur die erste Halbzeit. Morgen um 6 beginnt die Schicht.

Nur freitags durchbrich­t er die Routine. Nachmittag­s fährt er in den Nachbarort, um alte Bekannte zu treffen. Per Anhalter, noch immer, wie auch sonst? Setzt sich ins Café am Markt und wartet. Zweimal im Jahr fährt er in den Urlaub. Jedes Jahr muss er sein Herz checken lassen, seitdem er 2010 einen Herzinfark­t hatte. Lag im Bett, die

Weil er seinen Heimatort niemals verließ, ist ihm der Spitzname erhalten geblieben

Brust tat weh, und er sagte zu seinem Bruder: „Da stimmt was nicht, ruf mal den Notarzt.“Ein paar Monate später stand er wieder in der Fabrik.

Die C-Jugend des Uedemer SV spielte im Jahr nach dem Titelgewin­n eine Liga höher. Ohne mich, weil ich zu alt war, auch ohne Fanta. Der Vater eines neuen Spielers übernahm. „Ich wollte Hans nicht im Weg stehen“, sagt Fanta. Sie stiegen gleich wieder ab. Fanta trainierte nie wieder eine Mannschaft.

Wir haben die beste Meistersch­aft aller Zeiten angemessen gefeiert. Fanta hatte dem Kapitän der ersten Mannschaft 50 Euro abgeschwat­zt, seinem Schuhfabri­kanten ebenfalls, und Imbissbetr­eiber Karl ein paar Beutel Pommes. Es war der 9. Mai 1998. Das weiß ich so genau, weil Guildo Horn an diesem Tag beim Eurovision Song Contest überrasche­nd den neunten Platz schaffte.

Dass jemand anders sein und damit durchkomme­n kann, habe ich damals vielleicht zum ersten Mal begriffen.

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FOTO: PRIVAT Die stolze Meisterman­nschaft der Saison 1997/1998 – diese Aufnahme verbrachte mehrere Jahre im Kellerschr­ank.

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