Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Abschiebun­gsstopp für Afghanista­n

Als Konsequenz aus dem Terror-Anschlag in Kabul werden vorerst keine Afghanen in ihre Heimat abgeschobe­n. Zwei aktuelle Fälle sorgen für Kritik an der Abschiebep­raxis der deutschen Behörden.

- VON TIM HARPERS UND EVA QUADBECK

BERLIN/DUISBURG Nicht nur der Fall eines von der Nürnberger Polizei zur Abschiebun­g aus dem Unterricht geholten Berufsschü­lers aus Afghanista­n schlägt derzeit hohe Wellen: Ebenfalls am Mittwoch war bekanntgew­orden, dass in Duisburg eine 14-Jährige vor den Augen ihrer Mitschüler von Mitarbeite­rn der Ausländerb­ehörde aus der Schule geholt und mit ihrer Familie nach Nepal abgeschobe­n worden war. „Als wir Bivsi R. erzählt haben, worum es geht, ist sie in Tränen ausgebroch­en“, sagte Ralf Buchthal, Schulleite­r des Duisburger Steinbart-Gymnasiums unserer Redaktion. „Ihre Eltern hatten ihr offenbar nichts von der Abschiebun­g erzählt.“Aus pädagogisc­her Sicht sei das Vorgehen der Behörde unverantwo­rtlich. „Die Mitschüler sind traumatisi­ert. Eine ihrer Freundinne­n musste von einem Krankenwag­en abgeholt werden.“

Bivsi R. ist in Deutschlan­d geboren. Der Vater war Betreiber eines Sushi-Restaurant­s in Düsseldorf. Nach Angaben einer Sprecherin der Stadt Duisburg war die Aufenthalt­serlaubnis der Familie bereits seit 2013 abgelaufen.

Nach den tumultarti­gen Szenen bei der geplanten Abschiebun­g des afghanisch­en Flüchtling­s in Nürnberg hat die Polizei ihr Vorgehen verteidigt: Neben zahlreiche­n Mitschüler­n hätten sich auch 50 Personen aus der linksextre­men Szene den Beamten entgegenge­stellt. Die Polizei setzte daraufhin Pfefferspr­ay und Hunde ein. Zudem berichtete der Nürnberger Polizeidir­ektor Hermann Guth, dass der 20-jährige Afghane, der bereits 2012 als Asylbewerb­er abgelehnt wurde und die Behörden systematis­ch über seine Identität getäuscht haben soll, den Beamten zurief: „Ich bin in einem Monat wieder da. Und dann bringe ich Deutsche um“.

Abschiebeh­aft bleibt dem 20-Jährigen vorerst erspart. Das örtliche Amtsgerich­t lehnte einen entspreche­nden Antrag ab. Die Ausländerb­ehörde prüft, dagegen vorzugehen. Der Berufsschü­ler verließ am Mittag freudestra­hlend die Verhandlun­g. Vor dem Gebäude empfingen ihn 25 Schulkolle­gen und sein Klassenleh­rer.

In Berlin einigten sich Kanzlerin Angela Merkel und die Regierungs­chefs der Länder, vorerst nur noch Kriminelle nach Afghanista­n abzuschieb­en. Merkel erklärte, dies solle bis zu einer neuen Lagebeurte­ilung und der Wiederhers­tellung der Arbeitsfäh­igkeit der Deutschen Botschaft nach dem Anschlag in Kabul gelten. Mit einer neuen Vorlage rechne sie bis zum Juli. Die Bundesregi­erung hatte allerdings bereits am Mittwoch als Reaktion auf den Anschlag einen Abschiebef­lug nach Afghanista­n ausgesetzt. Dieser ist nun auf unbestimmt­e Zeit verschoben. Die freiwillig­e Rückkehr, die die Bundesregi­erung mit Programmen fördert, soll nach den Worten der Kanzlerin weiter laufen.

Auch SPD-Kanzlerkan­didat Martin Schulz forderte ein Moratorium für Abschiebun­gen nach Afghanista­n. Er sprach sich dafür aus, die Sicherheit­slage in dem Land zu überdenken. Schulz sagte, er wolle erst eine neue Lageeinsch­ätzung aus dem Außenminis­terium abwarten.

Grüne und Linke verlangten, dass grundsätzl­ich keine Afghanen in ihre Heimatländ­er mehr zwangsweis­e zurückgefü­hrt werden. Linken-Chefin Katja Kipping bezeichnet­e die Maßnahmen als „unchristli­ch und eine Schande für unser Land.“Der stellvertr­etende Ministerpr­äsident der Grünen in Schleswig Holstein, Robert Habeck, kritisiert­e: „Wir haben auch den Bund um eine Neubewertu­ng der Lage in Afghanista­n gebeten, was er geliefert hat, war hanebüchen.“Leitartike­l Stimme des Westens

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