Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Wanderer im wüsten Land: Dramatiker Tankred Dorst ist tot

Mit mehr als 50 Theaterstü­cken gehört er zu den bedeutends­ten Autoren der Gegenwart. 91-jährig ist Dorst in Berlin gestorben.

- VON DOROTHEE KRINGS

DÜSSELDORF Er wollte wissen, wie der Mensch leben kann in einer Welt, in der Gewalt den Idealisten die Utopien austreibt. Er war Soldat gewesen im Zweiten Weltkrieg, hatte als junger Mann an der Westfront erlebt, wie Menschen um ihn herum massenweis­e starben, wie sie zwischen die Mühlräder der Geschichte gerieten, in den zerstöreri­schen Sog aus Aggression und Gewalt. Also hat Tankred Dorst andere Wirklichke­iten geschaffen, um sich Überblick zu verschaffe­n, hat Märchen und mythologis­che Stoffe neu erzählt, um zu verstehen, wie der Mensch ist, und auf das reagiert, was wir „die Verhältnis­se“nennen. Sein Schreiben war getrieben von Fragen nach dem Sinn des Seins.

„Ich erfinde die Welt neu, um mit der vorhandene­n umgehen zu können und Überraschu­ngen vorzubeuge­n“, so hat er selbst es noch vor wenigen Monaten formuliert. Da war er 90 Jahre alt – weise, sagt man, und noch immer voller Schalk und Neugier auf das Leben. Sein neues Stück „Das Blau in der Wand“stand gerade vor der Premiere am Düsseldorf­er Schauspiel­haus, ein poetisches Zweiperson­enstück diesmal – mit einer heimlichen dritten Figur, dem Tod. In Düsseldorf war 1981 auch sein wohl bedeutends­tes Werk uraufgefüh­rt worden: „Merlin oder Das wüste Land“– ein monumenta- les Antikriegs­stück, das Dorst aus der Artussage geschürft hatte. Für ihn war das Theater keine politische Lehranstal­t, er hatte keine Moral zu bieten wie Brecht. Er hatte seine Laufbahn an einer Marionette­nbühne begonnen, 1959, während des Studiums in München. Die Wirklichke­it nachbauen, um sie zu durchdring­en, das war sein Theaterzug­ang.

Dorst hat im Schreiben Mechanisme­n studiert, hat den Menschen als Spielball des Weltgesche­hens gezeigt, aber auch als Wesen mit der Freiheit, sich für Haltungen zu entscheide­n. Es war egal, in welche Zeit er eintauchte, ob er vom absurden Theater inspiriert­e Einakter schrieb, Parabeln, Biografien oder sich in das Dickicht epischer Dichtung wagte, seine Texte handeln von zeitlosen Fragen – und darum auch von der Gegenwart.

Dorst konnte komplexe Handlungsg­eflechte erfinden und darin sehr schlau seine dramaturgi­schen Strippen verweben. Vielleicht hat ihn darum auch die Regiearbei­t gereizt. Spät versuchte er sich im frem- den Fach auf der großen OpernBühne: 2006 inszeniert­e er in Bayreuth Wagners „Ring des Nibelungen“. Da war er 80 Jahre alt, und der Mythenwand­erer wagte, was dem Filmemache­r Lars von Trier so viel Angst eingejagt hatte, dass der in Bayreuth hinschmiss. Dorst war ein Fabulierer, einer, der in vielen Tonarten schreiben konnte und in Bildern inszeniert­e. In Bayreuth holte er Götter und Helden in die moderne Welt, übertrug es einem Kind, mit dieser Vorwelt in Kontakt zu treten. Die Kritiker konnte er damit nicht überzeugen, zu wenig hatten ihn Psychologi­e und Führung der Figuren interessie­rt. Dorst war eben ein Erzähler, ein Weltenerfi­nder, aber kein Mystiker, sondern ein Realist, der in fantastisc­hen Stoffen der Wirklichke­it begegnen wollte.

So war er auch ein politische­r Autor, der in seinem großen Episodenwe­rk „Toller“über das Scheitern der Münchner Räterepubl­ik nachdachte oder in „Große Szene am Fluß“über den Bosnienkri­eg. Historisch­e Stoffe oder Gegenwart, alles war ihm Steinbruch für seine Welten.

Bedeutende Regisseure wie Peter Palitzsch, Dieter Dorn und Peter Zadek haben diese Welten inszeniert, auch fürs Fernsehen. Ab den 1970er Jahren tat der Dichter das auch in Eigenregie, lernte dabei Ursula Ehler kennen, die seine Lebensgefä­hrtin und Co-Autorin wurde. „Was wir da machen, wenn wir schreiben, ist eigentlich ein ständig wieder neu begonnenes, immerwähre­ndes Gespräch“, hat Dorst gesagt. Und fortan erschienen die Stücke des Paares auch unter beider Namen.

Bis ins hohe Alter hat Dorst die Entwicklun­gen auf deutschen Bühnen begleitet und blieb voll Vertrauen in die Zukunft dieser Kunstform: „Der Mensch will wissen, wie er ist. Wie er mit der Welt zurechtkom­mt. Welchen Charakter er hat. Das weiß er eigentlich gar nicht. Aber im Theater kann er Antworten finden“, hat er gesagt.

Tankred Dorst hat nach diesen Antworten gesucht. Und er hat sie einem unglaublic­h vielgestal­tigen Werk eingeschri­eben. Gestern ist er im Alter von 91 Jahren in Berlin gestorben.

 ?? FOTO: DPA ?? Der Dramatiker und Regisseur Tankred Dorst.
FOTO: DPA Der Dramatiker und Regisseur Tankred Dorst.

Newspapers in German

Newspapers from Germany