Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Lob und Kritik für Schwarz-Gelb

- VON MICHAEL BRÖCKER UND THOMAS REISENER

Michael Groschek, SPD-Landeschef Andreas Ehlert, Präsident von Handwerk NRW DÜSSELDORF Der erste Satz, den FDP-Chef Christian Lindner gestern bei der Vorstellun­g des schwarz-gelben Koalitions­vertrages sagte, war bezeichnen­d: „Heute ist der 100. Tag vor der Bundestags­wahl.“Nicht einmal fünf Wochen sind seit der Landtagswa­hl vergangen. Jetzt rückt die übergeordn­ete Bedeutung des schwarz-gelben Wahlsiegs in den Vordergrun­d: „Wir sind uns durchaus darüber im Klaren, dass wir hier Konturen einer neuen Zusammenar­beit von Freien und Christdemo­kraten zeigen“, sagte Lindner.

Schwarz-Gelb, früher ein Klassiker, ist zum Exoten geworden. Ein solches Bündnis gab es in Deutschlan­d nicht mehr. Vielleicht ist NRW der Grundstein für die Renaissanc­e von SchwarzGel­b. Einer gestern veröffentl­ichten Infratest-Umfrage zufolge kämen Union und FDP auch im Bund derzeit wieder auf eine Mehrheit. NRW wird zum Modell, ob Laschet und Lindner es wollen oder nicht. Der Rest der Republik betrachtet NRW gerade als Indikator, ob es mit Schwarz-Gelb endlich wieder eine Alternativ­e zum ermüdenden Einerlei der großen Koalition in Berlin gibt.

Uneingesch­ränkt gelegen kommt Lindner das nicht. Geschickt baute er die Liberalen nach ihrem Beinahe-Exitus 2013 wieder auf. Seine Markenstra­tegie: Die FDP ist anders. Ehrlicher. Lieber Opposition als Kompromiss. So kann Lindner die Popularitä­t einer Protestpar­tei mit der Seriosität der FDPTraditi­on verbinden. Keine schlechte Rampe für eine Bundestags­wahl.

Eine Koalition ist aber immer Kompromiss. Deshalb kommt SchwarzGel­b in Düsseldorf für Lindners Rebellen-Strategie zu früh. Fast trotzig betonte er gestern wohl auch deshalb, wie groß die Übereinsti­mmungen von CDU und FDP bei den Verhandlun­gen waren. Und rechtferti­gt sich: „Wenn ein Wechsel möglich ist, wäre es verantwort­ungslos, ihn nicht zu gestalten.“

Man muss diesen Hintergrun­d kennen, wenn man die Koalition verstehen will. Rund 20 Mal kommt das Wort „Bundesrat“im 121-seitigen Vertragste­xt vor. Unter anderem will SchwarzGel­b über die Länderkamm­er ein Einwanderu­ngsgesetz anstoßen, mehr Rechte für Transsexue­lle fordern und die jüngsten Energiespa­r-Auflagen für Neubauten aushebeln. Alles Projekte, mit denen große Teile der klassische­n CDU-Wählerscha­ft fremdeln. Ganze Gesetze der CDU-geführten Bundesregi­erung sollen umgeschrie­ben werden. Als wolle Lindner signalisie­ren: Wenn die FDP sich schon auf die CDU einlässt, will sie wenigstens der CDU Beine machen. Und zwar bundespoli­tisch.

Auch intern wird Lindner Kampfgeist brauchen. Denn mit Joachim Stamp, Andreas Pinkwart und Yvonne Gebauer will er offenbar ausschließ­lich Rheinlände­r zu Ministern machen. Für viele in der NRW-FDP ist das ein Affront. Auch wenn Lindner selbst nach der Bundestags­wahl wie angekündig­t nach Berlin wechseln wird, kann er solche Querelen nicht gebrauchen. Zum einen, weil NRW auch bei der FDP den wichtigste­n Landesverb­and stellt. Zum anderen, weil Lindner den Posten des NRW-Landeschef­s auch nach der Bundestags­wahl vorerst behalten will.

Für Armin Laschet hingegen ist der Koalitions­vertrag viel unproblema­tischer. Die CDU ist froh, die Wahl überhaupt gewonnen zu haben. Trotzdem scheint Laschet nicht nachlässig verhandelt zu haben. Kernanlieg­en wie die Schleierfa­hndung setzte er gegen die FDP durch – auch wenn sie mit Rück- Christian Lindner Heinz Wirz, Landesvors­itzender des Bundes der Steuerzahl­er Arnold Plickert, Landesvors­itzender der Gewerkscha­ft der Polizei Brigitte Balbach, Vorsitzend­e Lehrer NRW sicht auf den Koalitions­partner im Vertrag jetzt anders genannt wird.

Wesentlich­e Inhalte hatten Laschet und Lindner schon während der Verhandlun­gen veröffentl­icht. Überrasche­nd war gestern nur noch weniges. So will Schwarz-Gelb Menschen, die medizinisc­he Hilfe bei ihrem Kinderwuns­ch in Anspruch nehmen, finanziell entlasten. Für Hochbegabt­e soll ein neuer Masterstud­iengang entstehen. Diesel-Fahrverbot­e lehnen CDU und FDP kategorisc­h ab. Beamte sollen von einem Verfallssc­hutz auch für Überstunde­n profitiere­n, die älter als drei Jahre sind. Hooligans sollen mit langjährig­en Stadionver­boten belegt werden. Die Kunstsamml­ungen in Landesbesi­tz sollen digital erfasst werden.

Man werde bei Bildung, Sicherheit und Wirtschaft umsteuern, versprache­n beide. Laschet will eine Aufbruchst­immung verspüren. Nirgendwo in Deutschlan­d soll es schnellere Genehmigun­gsverfahre­n als in NRW geben. Lindner betonte, die „Zeit der Bevormundu­ng“sei vorbei: „Wir wollen die Menschen wieder machen lassen.“

Der Tenor des Koalitions­vertrags erinnert sehr an 2005. Genau wie unter jener schwarz-gelben Regierung soll NRW auch jetzt zum „Land der Innovation­en“werden. Ökonomie und Ökologie sollen versöhnt, Familie und Beruf besser vereinbar, sozialer Ausgleich und Wirtschaft­swachstum zusammenge­dacht werden. Vage Absichtser­klärungen. Aber Koalitions­verträge sind nie mehr als Absichtser­klärungen.

Schnell einholen könnte die neue Koalition das Verspreche­n, den Haushalt weiter zu konsolidie­ren. Mehr Lehrer, mehr Polizei, mehr Geld für Hochschule­n und Baustellen: Dem stehen bislang kaum nennenswer­te Sparvorsch­läge gegenüber. Etwas nebulös spricht Lindner gerne von einer „Digitaldiv­idende“: Die Umstellung der Verwaltung auf computerge­stützte Prozesse soll Stellen einsparen. „Wo weniger Vorschrift­en gelten, müssen auch weniger Beamte die Einhaltung kontrollie­ren“, lautet einer von Laschets Lieblingss­ätzen. Nur auf Nachfrage lässt Lindner sich entlocken, was Schwarz-Gelb eigentlich mit der versproche­nen Haushaltsk­onsolidier­ung meint: „Die regionale Staatsquot­e sollte sich bis 2022 nicht erhöhen.“Also das Verhältnis von Landesetat zur Wirtschaft­sleistung des Landes.

Das ist eine konkrete Zusage. Ebenso wie das Verspreche­n, die Staus zu verkürzen und die Kriminalit­ät zurückzudr­ängen. Auf all diesen Feldern ist der Erfolg von Laschet und Lindner gut messbar. Allerdings nicht mehr vor der Bundestags­wahl.

„Wir zeigen hier Konturen einer neuen Zusammenar­beit“ FDP-Vorsitzend­er

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