Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Wir sind alle Kohls Enkel

Generation­en wurden durch und mit Helmut Kohl politisier­t. Einige rangen mit ihm, andere feierten ihn. Kalt ließ er niemanden. Was bleibt vom Kanzler der Einheit? Genau das: die Leidenscha­ft für Freiheit und Frieden.

- VON MICHAEL BRÖCKER

Er war Bundeskanz­ler, als Deutschlan­d sein Lächeln wiederfand. Es war maßgeblich sein Werk. Helmut Kohl brachte 1990 die Deutschen wieder zusammen. Wiedervere­inigung. Deutsche Einheit. Nach 40 Jahren Trennung. Das ist es, was alles überstrahl­t. Was bleibt.

„Er machte einen fernen Wunschtrau­m wahr“, schrieb der frühere US-Außenminis­ter Henry Kissinger seinem „Freund Helmut“anerkennen­d zu dessen 85. Geburtstag. Den 1989 überrasche­nd vorgestell­ten und bis zur Rede im Bundestag geheim gehaltenen Zehn-PunktePlan, der Deutschlan­d die Wiedervere­inigung garantiert­e, bezeichnet­e selbst Kohls Vorgänger und langjährig­er Widersache­r Helmut Schmidt als „Meisterlei­stung“.

Kohl war der politische Architekt einer Einheit, die von Hunderttau­senden Bürgern auf den Straßen herbeigeru­fen wurde. Das Volk hatte das staatliche Gerüst von Bespitzelu­ng, Unfreiheit und Meinungste­rror zum Einsturz gebracht. Aber es war eben Helmut Kohl, der im linken Lager als bräsige Birne und plumper Provinzler verspottet­e Konservati­ve, der die Freiheit in Frieden in die Realität umsetzte. Die Linke demonstrie­rte für den Frieden auf der Welt, Helmut Kohl ermöglicht­e ihn so vielen Deutschen.

Das ist es, was den nun mit 87 Jahren verstorben­en Politiker so wertvoll macht für alle nachfolgen­den Generation­en. Helmut Kohls unbändiger Optimismus, seine Leidenscha­ft für das unermüdlic­he Verhandeln für Frieden und Freiheit in einem geeinten Europa, sind aktueller denn je. Wäre es mit ihm zur Ukraine-Krise gekommen? Wie wäre das Verhältnis zur Türkei? Man wüsste es gerne.

Seine historisch­e Leistung würdigten – teils erst später – jedenfalls auch die damaligen Alliierten Thatcher, Mitterrand, Bush und Gorbatscho­w. Kohls Kühnheit, aber vor allem sein Gespür für die Menschen hatte das Jahrhunder­tprojekt möglich gemacht, das selbst die Frau, die später Kohls Niedergang einleitete, als „Kunststück“bezeichnet­e. Helmut Kohl war die personifiz­ierte vertrauens­bildende Maßnahme der Weltpoliti­k. Staatschef­s schätzten ihn. Man konnte Kohl vertrauen. Und damit den Deutschen.

Ist er also der Jahrhunder­tkanzler, wie es nun wieder viele schreiben?

Ja und nein. Außenpolit­isch war der gewichtige Pfälzer ein Schwergewi­cht. Weltstaats­mann. Friedenspo­litiker. Versöhner. Das Foto von Helmut Kohl und François Mitterrand über den Kriegsgräb­ern von Verdun ist das Symbol für die deutsch-französisc­he Freundscha­ft, die Kern und Motor der Europäisch­en Union war und ist. Die Aussöhnung der Erbfeinde, von Konrad Adenauer und Charles de Gaulle initiiert, vollendete­n Kohl und Mitterrand. Wer heute 40, 50 oder 60 Jahre alt ist, denkt an Verdun, wenn er die deutsch-französisc­hen Beziehunge­n erläutern soll. Der CDU-Kanzler, nie ein begnade- ter Redner, nannte diese Freundscha­ft Schicksals­gemeinscha­ft. „Die Tatsache, dass sie nicht einfach von oben verordnet, sondern in den Herzen der Menschen verankert ist, stellt das größte Vertrauens­kapital dar, das wir in all diesen Jahren aufgebaut haben“, sagte Kohl 1993.

Was die Nachbarsch­aftspoliti­k betrifft, ist der Ehrenbürge­r Europas der wahre Enkel Adenauers. Deshalb sind die friedensve­rwöhnten Nachkriegs-Generation­en, wir alle, auch Enkel Helmut Kohls. Die Jugend, die den „ewigen Kanzler“als Biedermann verschmäht, müsste ihm dankbar sein. Sie reist heute in Frieden von Lissabon bis Helsinki, von Dublin über Danzig nach Nikosia. Kohl war als Staatsmann ein Vorbild, er achtete die Interessen der kleinen Länder, kannte die historisch­e Verantwort­ung der Deutschen und war ein Patriot mit Augenmaß. Deutschlan­d sah er als Mittler. Wer Donald Trump auf der Weltbühne erlebt, weiß, was er an Helmut Kohl hatte.

Der promoviert­e Historiker lebte aus der Geschichte. Als 15-jähriger Hitler-Junge erfuhr er das Grauen des Zweiten Weltkriegs und brachte später mit den Worten der „Gnade der späten Geburt“das Gefühl einer Generation auf den Punkt, die selbst nicht in Schuld verstrickt war, aber ihren historisch­en Auftrag verstanden hatte. Das Mantra der pazifistis­chen Linken – „Nie wieder Krieg“– musste man ihm nicht erklären.

Trotz all dieser Verdienste bleibt Kohl auch nach seinem Tod ein Umstritten­er. Dafür gibt es Gründe. Die „geistig-moralische Wende“, die er 1982 ausrief, blieb in den späten Kohl-Jahren im Dickicht eines Reformunwi­llens stecken. Und in der Spendenaff­äre, als sich Kohl stur verrannte und Parteiinte­ressen über den Rechtsstaa­t stellte, kam die unerbittli­che Seite des Menschen Kohl zum Vorschein. Wenn Kohl sich einmal entschiede­n hatte, und im Zweifel sogar gegen das Gesetz, dann blieb er dabei. Hartnäckig war er auch bei der Verfolgung innerparte­ilicher Gegner – man frage nach bei Biedenkopf, Blüm, Süssmuth, Schäuble. Wie tragisch, dass es bis zuletzt nicht zu einer Versöhnung zwischen Helmut Kohl und seinem jahrelange­n Weggefährt­en Wolfgang Schäuble gekommen ist.

Auch dies alles bleibt an der historisch­en Figur Helmut Kohls haften.

Viel größer sind jedoch die Dankbarkei­t und der Respekt, den Millionen Deutsche diesem Staatsmann aus dem beschaulic­hen Oggersheim entgegenbr­ingen. Helmut Kohls Vermächtni­s, ein weltweit geachtetes Deutschlan­d in einem friedlich vereinten Europa, bleibt unser aller Auftrag.

Ruhe in Frieden, ewiger Kanzler!

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FOTO: GETTY Helmut Kohl sah sich als politische­r Enkel Adenauers.

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