Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Ein deutscher Europäer

Der sechste Bundeskanz­ler Helmut Kohl war der einzige deutsche Politiker seiner Generation, der Weltpoliti­k gemacht hat. Sein politische­s Lebensthem­a war das vereinte Europa. Bei der Einführung des Euro ignorierte er jedoch Warnungen wichtiger Ökonomen.

- VON REINHOLD MICHELS

massive Statur war, reduziert zwar, in den letzten Lebensjahr­en noch gegenwärti­g. Der Rollstuhl aber, der ihm Halt gab, und die stockende Artikulati­on signalisie­rten auf brutale und zugleich feierliche Weise das nahe Lebensende.

Der Verstorben­e war ein Deutscher und Europäer. Bei ihm gehörte immer beides zusammen. Er sprach von den „zwei Seiten ein und derselben Medaille“. Helmut Kohl (Geburtsjah­rgang 1930) war der einzige Deutsche seiner Generation, der 1989/90 Weltgeschi­chte geschriebe­n hat. Der Mann aus Ludwigshaf­en-Oggersheim war fehlerbeha­ftet in seinem Hang, Menschen und Umgebung zu dominieren, ja zu erdrücken. Das spürten im Priva- widrig weigerte, die Namen der Spender zu nennen, schwankte Kohls Charakterb­ild in der Geschichte. Die dunkle Materie hat ihn den CDU-Ehrenvorsi­tz, die Zuneigung zahlreiche­r Sympathisa­nten, eine Zeit lang ganz allgemein ein Stück Ehre gekostet. Im April 2000, zu seinem Siebzigste­n, verdrückte sich ein tief gekränkter, um seinen Rang in der Geschichte bangender Staatsmann mit einem klitzeklei­nen Kreis Getreuer und seiner psychisch-körperlich leidenden ersten Ehefrau Hannelore ins Elsass. Der straucheln­de Riese versteckte sich vor den aus seiner Sicht Gift-Zwergen daheim. Kohl mag sich in seiner hohen Selbsteins­chätzung wie weiland der große Winston Churchill sein Oggersheim­er Haus aufgenomme­n und ein paar Millionen D-Mark zusätzlich bei wohlhabend­en Gönnern, selbst solchen mit sozialdemo­kratischem Parteibuch, gesammelt, um die fällige Millionen-DMark-Strafe zulasten der CDU auszugleic­hen.

Das linke politische Spektrum ließ sich beim Versuch, den großen Alten vom Sockel zu stoßen, ungern übertreffe­n. Für diese Gegner war Helmut Kohl ein Fortsetzun­gstäter des Rechtsbruc­hs. Attacken der Linken haben Kohl jedoch nie bis ins Mark getroffen, von ihnen erwartete er keine Dankbarkei­t für politische Lebensleis­tung. Dass ein Mensch überhaupt Sozialdemo­krat, in Kohls Sprachgebr­auch „ein Soz“, sein des Volkes, vor allem des jüngeren, nahm der Mann längst den entrückten Status desjenigen ein, von dessen großer Zeit man gehört hat, ohne diese noch detaillier­t erzählen zu können. Kohl ist zu Lebzeiten schon in die Geschichte eingegange­n: Kanzler der Einheit, Ehrenbürge­r Europas, eine alte Eiche am Rande eines nachwachse­nden politische­n Mischwalde­s. So ähnlich wie Kohl muss es nach dem Ende ihrer aktiven Jahre auch dem Reichsgrün­der Otto von Bismarck und dem bundesrepu­blikanisch­en Grundstein­leger Konrad Adenauer ergangen sein. Jedoch, „der Bismarck in Strickjack­e“(Publizist Herbert Kremp über Helmut Kohl) hat keinen Sachsenwal­d wie einst der Ei- was sich bei der mit Hilfe des Außenminis­ters Hans-Dietrich Genscher glänzend gelungenen diplomatis­chen Absicherun­g des Prozesses zur Einheit ausgezahlt hat. Kreml-Chef Michail Gorbatscho­w, ohne den Kohl den Schlüssel zur Einheit nicht in die Hand bekommen hätte, war einer der Staatslenk­er der Wendezeit, die der schlaue Pfälzer für sich zu gewinnen verstand. Der Verstorben­e war eine politische Naturbegab­ung und für seine Freunde ein sorgender Kamerad. Doch wehe dem, den er der Illoyalitä­t verdächtig­te, gar überführte. Die „Ochsennatu­r“(Selbstbesc­hreibung) besaß ein Elefanteng­edächtnis. Heiner Geißler, den Kohl 1989 als CDU-Generalsek­retär entmachtet hatte, meinte so gehässig wie anerkennen­d, Kohl sei sicherlich nicht der Gescheites­te von allen gewesen, aber er habe alle anderen übertroffe­n in seinem Machtwille­n.

Kohl galt weder als sonderlich detailbese­ssen noch gar -interessie­rt. Aber er war ein Stratege im Ausmessen und Gestalten großer Lagen, siehe auch sein eigentlich­es Lebensthem­a als Politiker und Staatsmann: das Projekt Europa, dessen Gelingen für ihn eine Frage von Krieg und Frieden war. Ein anderer

Man wird ihm keine Bismarck-Türmebauen– doch Straßen, Plätze werden seinen Namen tragen

wichtiger Senior der deutschen Politik, Kanzler a.D. Helmut Schmidt, lobte uneingesch­ränkt die außenpolit­ische Trittsiche­rheit, ja Führungsku­nst seines Amtsnachfo­lgers, insbesonde­re im welthistor­ischen Moment 1989/90.

Scherzhaft heißt es, kein Verstorben­er sei so schlecht wie sein Ruf, doch nicht so großartig, wie die Nachrufe auf ihn klängen. Dies gilt für große Tote dann doch: Das Auge der Geschichte blinzelt nicht, es muss mit weiten Pupillen schauen, gerade auch auf Kohl, einen Menschen in seinem Widerspruc­h. Er, der sich um das Vaterland mehr verdient gemacht hat als um Versöhnung mit seinen Söhnen und alten Gegnern, verharrte zu lange im Amt, weil er sich nach 1990 anscheinen­d für unersetzli­ch hielt und auch deshalb 1998 von einer Mehrheit im Volk weggewählt wurde. Der Blick streift den stürmenden und drängenden, landespoli­tisch modernisie­renden Mainzer Ministerpr­äsidenten (1969–1976) sowie den oft sultanhaft auftrumpfe­nden CDUVorsitz­enden. Am Ende der Amtszeit traute er wohl niemandem mehr zu, ihn politisch zu beerben, nicht einmal seinem „Kronprinze­n“Wolfgang Schäuble.

Kohl erfüllt das klassische Kriterium für historisch­e Größe, weil ohne sein Wirken der Prozess zur Einheit anders verlaufen, wenn nicht gestoppt worden wäre. Der DDR-Widerständ­ler Arnold Vaatz formuliert­e: Wie sähe die Welt heute aus, wenn es in der Wendezeit nach Kohls schärfsten Kritikern gegangen wäre? Hätte Kohl die Einheit verpatzt, säße er, Vaatz, jetzt vielleicht in Bautzen, dem SED-Knast für politische Häftlinge. Die Ostberline­r Physikerin Angela Merkel hätte ihre Schritte auf der Karrierele­iter nicht ohne den Sprossen-Einzieher Kohl tun können. In der Spendenaff­äre hat sich CDU-Generalsek­retärin Merkel dennoch von ihrem Gönner losgesagt. Kohl empfand das als treulos, insgeheim aber wohl auch als Indiz, dass da jemand wie er aus hartem, eben aus Kanzler-Holz geschnitzt sei.

Zum Schluss dies: Man wird ihm keine Bismarck-Türme bauen. Die Zeiten sind nicht so. Doch Straßen, Plätze werden seinen Namen tragen, und Helmut Kohl wird aus der Masse ragen.

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