Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Schicksals­jahre einer Kanzlerin

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Ludwigshaf­en machte vergangene Woche gleich zweimal Schlagzeil­en. Einmal, weil dort am Freitag einer ihrer prominente­sten Söhne, der frühere Bundeskanz­ler Helmut Kohl, verstorben ist. Zum anderen, weil die amtierende Bundeskanz­lerin, Angela Merkel, nur wenige Tage zuvor in der pfälzische­n Industrie-Metropole den jährlichen Digitalgip­fel besucht hatte.

Ort und zeitliche Überschnei­dung dieser beiden Ereignisse könnten symbolisch­er nicht sein. Hatte Helmut Kohl nach dem Mauerfall den Ostdeutsch­en blühende Landschaft­en versproche­n, wird sich Angela Merkel eines Tages daran messen lassen müssen, ob es ihr gelungen ist, die deutsche Provinz, ob Ost oder West, vom Industriez­eitalter ins digitale Neuland zu führen. „Die Welt schläft nicht und wartet nicht auf Deutschlan­d“, mahnte Merkel. Aus heutiger Sicht mag es weit hergeholt erscheinen, doch die Frage, ob Deutschlan­d den Anschluss an das

Sollte Angela Merkel im Herbst die Wahl gewinnen, muss sie Deutschlan­d bei der Digitalisi­erung voranbring­en. Denn bei dem Thema ist die Republik eher Dritte Welt denn 4.0.

hyperverne­tzte Informatio­nszeitalte­r schafft, wird für unsere Kinder und Deutschlan­d insgesamt entscheide­nder sein als die aktuellen Wahlkampfs­chlager Rentenpoli­tik, Flüchtling­skrise oder Terrorbekä­mpfung. Glauben Sie nicht den Werbe-Märchen von Telekom und anderen Netzanbiet­ern. Was den Ausbau des schnellen Internets betrifft, ist Deutschlan­d mehr Dritte Welt statt 4.0. Mit einer Glasfaser-Abdeckung von gerade mal 1,7 Prozent belegt die Bundesrepu­blik im direkten OECD-Vergleich seit Jahren einen der letzten Ränge, weit abgeschlag­en hinter Ländern wie Japan (74,1 Prozent), Slowakei (27,9 Prozent) oder Chile (6,2 Prozent).

Das anbrechend­e Gigabit-Zeitalter wird wohl ohne Deutschlan­d stattfinde­n. Wirtschaft­lich spüren wir davon noch nichts. Die Zinsen sind niedrig, die Auftragsbü­cher voll, wir sind besoffen vom eigenen Erfolg. Doch die Geschichte lehrt uns, gerade Zeiten wie diese sind tückisch für große und saturierte Nationen. Ob Römisches Reich oder Britisches Empire, der Niedergang begann stets in dem Moment, als man vor Kraft nur so strotzte und sich selbst für unverwundb­ar hielt.

Helmut Kohl war der Kanzler der Einheit. Doch was Deutschlan­d im 21. Jahrhunder­t spaltet, ist keine Mauer, sondern ein digitaler Graben. Sollte Angela Merkel im Herbst wiedergewä­hlt werden, wird sie es in der Hand haben. Wird sie, wie seinerzeit ihr politische­r Ziehvater, den historisch­en Moment ihrer Regentscha­ft erkennen und entspreche­nd handeln? Wird sie die Digitalisi­erung vorantreib­en und ihren markigen Worten vom Digitalgip­fel in Ludwigshaf­en auch Taten folgen lassen? Schicksals­jahre einer Kanzlerin, vielmehr, einer ganzen Nation. Richard Gutjahr ist Moderator für das Bayerische Fernsehen und Blogger. Ihre Meinung? Schreiben Sie unserem Autor: kolumne@rheinische-post.de

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