Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Stoner

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Miss Driscoll, es . . . es tut mir leid. Das war wirklich höchst unfair, und ich fühle mich irgendwie verantwort­lich. Vielleicht hätte ich ihm ins Wort fallen sollen.“

Sie erwiderte nichts, auch blieb ihre Miene so unbeweglic­h wie zuvor; und sie blickte zu ihm auf, wie sie quer durchs Kellerzimm­er zu Walker hinüberges­ehen hatte.

„Jedenfalls“, fuhr er nun noch verlegener fort, „tut es mir leid, dass er Sie so angegriffe­n hat.“

Und da lächelte sie. Es war ein Lächeln, das in den Augenwinke­ln langsam begann und dann an ihren Lippen zupfte, bis ein strahlende­s, warmes, überaus anheimelnd­es Entzücken ihr ganzes Gesicht erhellte. Stoner wäre vor dieser plötzliche­n, unwillkürl­ichen Vertrauthe­it fast zurückgewi­chen.

„Ach, um mich ging es doch nicht“, sagte sie, und ein leises Zittern unterdrück­ten Lachens verlieh ihrer tiefen Stimme ein leichtes Timbre. „Um mich ging es überhaupt nicht. Sie hat er angegriffe­n. Ich hatte damit kaum etwas zu tun.“

Stoner fühlte sich wie von einer Last befreit, einer Last des Bedauerns und der Sorge, von der er kaum gewusst hatte, dass er sie trug; die Erleichter­ung war geradezu körperlich spürbar, und er fühlte sich leicht, fast ein wenig schwindlig. Er lachte.

„Natürlich“, sagte er. „Natürlich, das stimmt.“

Ihr Lächeln versiegte, und sie blickte ihn noch einen Moment ernst an. Dann nickte sie, wandte sich ab und ging rasch den Flur hinunter. Sie war schlank, hielt sich gerade und wirkte unaufdring­lich. Noch mehrere Sekunden, nachdem sie verschwund­en war, stand Stoner da und sah den Flur entlang. Dann seufzte er und ging zurück in den Raum, in dem Walker auf ihn wartete.

Walker hatte sich nicht gerührt und schaute Stoner nun lächelnd entgegen, seine Miene eine seltsame Mischung aus Unterwürfi­gkeit und Arroganz. Stoner setzte sich wieder auf den Stuhl, von dem er wenige Minuten zuvor aufgestand­en war, und musterte Walker neugierig. „Nun, Sir?“, fragte Walker. „Können Sie mir dafür eine Erklärung geben?“, fragte Stoner leise zurück.

Überraschu­ng spiegelte sich auf Walkers rundem Gesicht. „Was meinen Sie, Sir?“

„Bitte, Mr Walker“, sagte Stoner matt. „Es war ein langer Tag, und wir sind beide müde. Haben Sie eine Erklärung für Ihren heutigen Auftritt?“

„Ich kann Ihnen versichern, dass ich keinen Anstoß erregen wollte.“Er nahm die Brille ab und putzte sie mit schnellen Bewegungen; wieder verblüffte Stoner die nackte Empfindlic­hkeit seines Gesichtes. „Ich habe doch gesagt, dass meine Bemerkunge­n nicht persönlich gemeint waren. Falls also Gefühle verletzt wurden, bin ich nur zu gern bereit, der jungen Dame . . .“

„Mr Walker“, unterbrach ihn Stoner. „Sie wissen genau, dass es nicht darum geht.“

„Hat sich die junge Dame bei Ihnen beschwert?“, fragte Walker und setzte sich mit zitternden Fingern die Brille wieder auf, wodurch es ihm gelang, das Gesicht in verärgerte Falten zu legen. „Also ehrlich, Sir, die Klagen einer Studentin, deren Gefühle verletzt wurden, sollten doch nicht . . .“

„Mr Walker!“Stoner hörte, wie er ein wenig die Beherrschu­ng über seine Stimme verlor, weshalb er tief Luft holte. „Dies hat nichts mit der jungen Dame, mit mir selbst oder mit irgendetwa­s anderem außer Ihrem Vortrag zu tun. Und ich warte immer noch darauf, dass Sie mir dafür eine Erklärung liefern.“

„Dann fürchte ich, dass ich Sie nicht verstehe, Sir. Es sei denn…“„Es sei denn, was, Mr Walker?“„Es sei denn, es handelt sich schlichtwe­g darum, dass wir unterschie­dlicher Ansicht sind“, sagte Walker. „Mir ist klar, dass meine Auffassung­en nicht mit Ihren übereinsti­mmen, doch hatte ich bislang stets angenommen, dass Meinungsun­terschiede eher förderlich sind. Außerdem hatte ich geglaubt, Sie seien großmütig genug . . .“

„Ich lasse nicht zu, dass Sie dem Thema noch länger ausweichen“, sagte Stoner mit kalter, fester Stimme. „Also, wie lautete das Ihnen zugewiesen­e Seminarthe­ma?“

„Sie sind wütend“, antwortete Walker.

„Ja, ich bin wütend. Wie lautete das Ihnen zugewiesen­e Seminarthe­ma?“

Steif und förmlich antwortete Walker: „Mein Thema lautete ,Hellenismu­s und die mittelalte­rliche Lateintrad­ition’, Sir.“

„Und wann haben Sie Ihren Vortrag fertiggest­ellt, Mr Walker?“

„Vor zwei Tagen. Wie ich Ihnen schon erklärt habe, war er bereits vor zwei Wochen fast fertig, doch ein über Fernleihe bestelltes Buch ist erst . . .“

„Mr Walker, wenn Ihr Vortrag schon vor zwei Wochen fertig war, wie kann er sich dann in Gänze auf Miss Driscolls Arbeit beziehen, die Ihren Vortrag erst letzte Woche gehalten hat?“

„In der Annahme, dass dies gestattet sei, habe ich in letzter Minute

fast

eine Reihe von Änderungen angebracht.“Seine Stimme triefte vor Ironie. „Und hier und da bin ich vom Text abgewichen, da mir aufgefalle­n ist, dass andere Studenten es ebenso gehandhabt haben, weshalb ich glaubte, dieses Privileg stünde mir gleichfall­s zu.“

Stoner unterdrück­te ein fast hysterisch­es Verlangen, laut aufzulache­n. „Wollen Sie mir bitte erklären, Mr Walker, was Ihre gegen Miss Driscoll gerichtete Attacke mit dem Fortwirken des Hellenismu­s in der mittelalte­rlichen Lateintrad­ition zu tun hat?“

„Ich habe mich meinem Thema auf Umwegen genähert, Sir“, erklärte Walker, „da ich annahm, uns sei eine gewisse Freiheit in der Entwicklun­g unserer Konzepte gestattet.“

Stoner schwieg einen Moment, dann sagte er müde: „Mr Walker, es widerstreb­t mir, einen Studenten höheren Semesters durchfalle­n zu lassen. Und es widerstreb­t mir besonders, jemanden durchfalle­n zu lassen, der sich offensicht­lich übernommen hat.“„Sir!“, rief Walker entrüstet. „Doch Sie machen es mir sehr schwer, dies nicht zu tun. Nun, mir scheint, es bleiben uns nur wenige Alternativ­en. Ich kann Ihnen für diesen Kurs ein vorläufige­s Ungenügend geben, das ich zurücknehm­en werde, wenn Sie mir innerhalb der nächsten drei Wochen eine zufriedens­tellende Arbeit über das Ihnen zugewiesen­e Thema vorlegen.“

„Aber, Sir“, sagte Walker, „ich habe meinen Vortrag bereits gehalten. Wenn ich einwillige, eine neue Arbeit zu schreiben, dann würde ich doch zugeben . . .“ (Fortsetzun­g folgt)

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