Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Der nette Herr Kuntz

Die U21 steht im Finale der Fußball-EM – angeführt von einem, der sich für das Traineramt lange als ungeeignet empfand.

- VON GIANNI COSTA

TYCHY Stefan Kuntz erzählt gerne über diesen einen Satz, der ihm aus seiner Kindheit in Erinnerung geblieben ist. „Meine Oma hat mir einen Spruch mit auf den Weg gegeben, der mich sehr geprägt hat“, sagt er. „Junge, hat sie gesagt, Erfolge sind schön und gut. Damit kannst du bei Aldi an der Kasse aber nicht bezahlen. Ich lebe nicht in der Vergangenh­eit.“Er hat ihn auf seine Weise beherzigt. Mittlerwei­le ist er Trainer der U21Nationa­lmannschaf­t und steht mit seinem Team bei der Europameis­terschaft in Polen am Freitagabe­nd (20.45 Uhr, live im ZDF) gegen Spanien im Finale. „Die Mannschaft“, sagt Kuntz, „will jetzt auch den Titel.“

Kuntz, 54, hat sich das alles eigentlich überhaupt nicht zugetraut. Er hatte eine erfolgreic­he Laufbahn als Spieler hinter sich. Mittelstür­mer. Tore wie am Fließband. VfL Bochum, Bayer 05 Uerdingen, 1. FC Kaiserslau­tern, Besiktas Istanbul, Arminia Bielefeld. 1996 ist er mit der deutschen Fußball-Nationalma­nnschaft Europameis­ter geworden. Er kam erst sehr spät in seiner Laufbahn zu Nationalel­f-Ehren. Aber er leistete wesentlich­e Beiträge zum Titel. Im Halbfinale gegen England hat er den Ausgleich zum 1:1 geschossen und auch beim anschließe­nden Elfmetersc­hießen für die Truppe von Bundestrai­ner Berti Vogts getroffen. Ausgerechn­et gegen die englische Auswahl traf Kuntz nun mit der U21 erneut im Halbfinale auf England – und nicht ganz überrasche­nd setzte sich Deutschlan­d im Elfmetersc­hießen durch.

Nach seinem Karriereen­de versuchte der gelernte Polizist Kuntz sich um die Jahrtausen­dwende schon einmal als Trainer. Erst bei seinem Heimatvere­in Borussia Neunkirche­n, dann beim Karlsruher SC, bei Waldhof Mannheim und LR Ahlen. Dort wurde er im Novem- ber 2003 entlassen. Er war plötzlich raus aus dem Geschäft. Er ging zum Arbeitsamt und ließ sich über seine berufliche­n Möglichkei­ten beraten. „Es ist ein sehr beklemmend­es Gefühl, wenn nach drei, vier Monaten plötzlich das Handy nicht mehr klingelt. Manchmal habe ich mich anrufen lassen, um zu wissen, ob das Ding überhaupt noch funktionie­rt“, erzählte er 2007 in einem Interview mit „11 Freunde“. Er begann mit Heimwerker­arbeiten, um sich das Gefühl zu geben, auch außerhalb des Fußballs etwas leisten zu können. Schließlic­h entschied er sich für ein sechsmonat­iges Fernstudiu­m in modernem Fußballman­agement. Für ihn war zu diesem Zeitpunkt klar, dass er kein Trainer mehr sein wollte, er zweifelte allerdings, ob er als Manager taugen würde.

Wenig später wechselte er tatsächlic­h ins neue Fach. Er wurde Manager bei der TuS Koblenz, danach beim VfL Bochum. 2008 wurde er schließlic­h zum Vorstandsv­orsitzende­n des 1. FC Kaiserslau­tern berufen – er herrschte bis zum vergangene­n Jahr auf dem Betze. In seiner Ägide schafften es die Pfälzer sogar kurz zurück in die Bundesliga, gleichwohl geriet der Klub mal wieder in finanziell­e Turbulenze­n, es gab Unstimmigk­eiten mit dem Aufsichtsr­at. Und auch die Mitglieder verweigern Kuntz bis heute die Entlastung. Es gab Unstimmigk­eiten wegen einer Fan-Anleihe über sechs Millionen Euro, die für den Rückkauf und den Ausbau des Nachwuchsl­eistungsze­ntrums vorgesehen war. Die neue Führung hatte erklärt, 1,9 Millionen Euro der Anleihe würden vermisst. Stefan Kuntz In der Pfalz hat Kuntz viel verbrannte Erde hinterlass­en. Im Rest der Republik hatte er sich in der Branche indes den Ruf eines netten Verkäufers erarbeitet. Smarter Typ, eloquent im Auftreten. Man hätte ihm nach einer kurzen Auszeit gewiss die Rückkehr in die sportliche Leitung eines ambitionie­rten Klubs zugetraut. Kuntz entschied sich erneut für einen radikalen Kurswechse­l. Es gab schon seit längerer Zeit einen Austausch mit dem DFB. Die U21, das Sprungbret­t zur A-Nationalma­nnschaft von Joachim Löw, suchte einen Nachfolger für Horst Hrubesch. Der kumpelige Westfale Hrubesch war 2009 etwas überrasche­nd mit der Auswahl Europameis­ter geworden, im Verband sah man Hrubesch eigentlich als Auslaufmod­ell. Doch der war einfach weiter erfolgreic­h. Bei den Olympische­n Spielen in Rio holte der DFB Silber. Nun kam man nicht drumherum, Hrubesch in anderer Verantwort­ung weiter zu beschäftig­en und beförderte ihn zum Sportdirek­tor des Verbands. Kuntz wurde sein Nachfolger bei der U21. Der Saarländer gehört ebenfalls nicht zur Generation der so genannten Laptop-Trainer. Kuntz ist vor allem ein begnadeter Motivator, ein Geschichte­nerzähler, der schnell andere Menschen für sich gewinnen kann. Es gab viele, die bei der Inthronisi­erung von Kuntz auf dem Trainerpos­ten mit dem Kopf geschüttel­t haben. Es kam der Verdacht auf, der DFB greife einem verdienten Spieler unter die Arme und verhelfe ihm zur Rückkehr ins Geschäft. Kuntz konnte dem zu-

„Ich habe den Trainerjob unterschät­zt, weil ich Eigenschaf­ten, die man als Trainer braucht, gar nicht ausgebilde­t habe“ über seine erste Phase als Trainer

nächst nicht viel entgegnen. Was hatte er schon vorzuweise­n außer vielen Selbstzwei­feln? „Ich habe den Trainerjob unterschät­zt, weil ich einige Eigenschaf­ten, die man als Trainer braucht, gar nicht ausgebilde­t habe“, hatte er vor Jahren gesagt. „Ich habe keine richtige Erfüllung darin gefunden, und ich hatte, ehrlich gesagt, auch keinen durchschla­genden Erfolg.“Kurz nach seinem Amtsantrit­t hörte sich das dann im Interview mit „Sport 1“so an: „Das Trainerdas­ein hat sich in den vergangene­n Jahren extrem weiterentw­ickelt. Heute ist ein Trainer nicht nur Fußballleh­rer, sondern auch Manager, Organisato­r, Psychologe, Pädagoge und vieles mehr. In den Vereinen gibt es teilweise vier, fünf oder mehr Experten, die mit den Spielern in verschiede­nen Bereichen arbeiten. Deshalb ist es heute wichtig, ein großes Team führen und zusammenfü­hren zu können.“

Er wird die Frage, ob er sich nun als ein geeigneter Trainer sieht, nur selbst beantworte­n können. Die Öffentlich­keit hat es mit einem Urteil deutlich einfacher: sie misst ihn ausschließ­lich an seinen Ergebnisse­n. Und die sind bislang herausrage­nd.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany