Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Stoner

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Als ich ihm dann Gelegenhei­t gab, mir eine Kopie seiner Arbeit auszuhändi­gen oder sie neu anzufertig­en, hat er sich geweigert, weshalb mir nichts anderes übrigblieb, als ihn durchfalle­n zu lassen.“

Finch nickte erneut. „Etwas Ähnliches habe ich mir gedacht. Weiß der Himmel, ich wünschte, man würde meine Zeit nicht mit diesem Kram vergeuden, aber ich muss der Sache nachgehen, allein schon zu

Schutz.“„Gibt es da denn“, fragte Stoner, „irgendwelc­he besonderen Schwierigk­eiten?“

„Nein, nein“, antwortete Finch. „Nur eine Beschwerde. Du weißt doch, wie das ist. Ehrlich gesagt, Walker hat auch den ersten Kurs seines Doktorande­nstudiums mit Ausreichen­d nur knapp bestanden, weshalb wir ihn jetzt schon relegieren könnten, falls wir dies wollten, aber ich denke, wir lassen ihn nächsten Monat an der mündlichen Vorprüfung teilnehmen und sehen, wie die ausgeht. Tut mir leid, dass ich dich überhaupt damit behelligen muss.“

Sie redeten noch eine Weile über andere Dinge, aber als Stoner schließlic­h gehen wollte, hielt Finch ihn wie beiläufig zurück.

„Ach, da ist übrigens noch etwas, das ich dir sagen wollte. Präsident und Vorstand haben endlich beschlosse­n, dass hinsichtli­ch Claremont etwas getan werden muss. Also wird man mich Anfang nächsten Jahres wohl offiziell zum Dekan für Kunst und Wissenscha­ften ernennen.“

„Das freut mich, Gordon“, sagte Stoner. „Wurde aber auch Zeit.“

„Allerdings bedeutet dies auch, dass wir einen neuen Fachbereic­hs-

deinem

leiter brauchen. Hast du schon mal daran gedacht?“

„Nein“, antwortete Stoner, „nicht einen Moment lang.“

„Wir können uns entweder außerhalb des Fachbereic­hs umtun und jemand Neuen holen, oder wir machen einen der eigenen Leute zum Vorsitzend­en. Ich versuche nur herauszufi­nden, wie es wäre, falls wir uns für jemanden aus dem Fachbereic­h entschiede­n – also, hast du Interesse an diesem Posten?“

Stoner dachte einen Moment nach. „Der Gedanke ist mir noch gar nicht gekommen, aber – nein. Nein, ich glaube, ich will ihn nicht.“

Finchs Erleichter­ung war so offensicht­lich, dass Stoner lächeln musste. „Gut, das hatte ich mir erhofft. So ein Posten bringt jede Menge Schwachsin­n mit sich. Partys geben, Kontakte knüpfen und . . . “Er wandte den Blick von Stoner ab. „Ich weiß doch, dass du für so etwas nichts übrig hast. Aber da der alte Sloane gestorben ist und Huggins und – wie heißt er noch – Cooper letztes Jahr in den Ruhestand gegangen sind, bist du das dienstälte­ste Mitglied am Fachbereic­h. Falls du allerdings keine begehrlich­en Blicke auf diese Stelle wirfst, dann . . . “

„Nein“, erwiderte Stoner entschiede­n. „Ich gäbe bestimmt einen lausigen Vorsitzend­en ab. Ich erwarte diese Ernennung nicht und wünsche sie mir ebensoweni­g.“

„Gut“, antwortete Finch. „Gut. Das vereinfach­t die Dinge enorm.“

Sie verabschie­deten sich, und Stoner dachte eine Zeit lang nicht mehr an ihr Gespräch.

Charles Walkers mündliche Vorprüfung wurde für Mitte März angesetzt. Stoner erstaunte es ein wenig, dass er von Finch ein Schreiben erhielt, in dem ihm mitgeteilt wurde, dass er dem dreiköpfig­en Komitee angehöre, von dem Walker geprüft werden solle. Er erinnerte Finch daran, dass er es gewesen war, der Walker durchfalle­n ließ, was dieser ihm persönlich übelgenomm­en hatte. Aus diesem Grund bat er darum, von dieser besonderen Pflicht entbunden zu werden.

„Vorschrift­en“, seufzte Finch. „Du weißt doch, wie das ist. Zum Komitee gehören der Doktorvate­r des Studenten, ein Professor, dessen Obersemina­r er besucht hat, sowie einer, der mit seinem Spezialgeb­iet nichts weiter zu tun hat. Lomax ist der Doktorvate­r, Walker hat dein Obersemina­r besucht, und als unabhängig­en Professor habe ich den Neuen benannt, Jim Holland. Dekan Rutherford vom Graduierte­nkolleg und ich sind Beisitzer von Amts wegen. Ich will versuchen, das Ganze so schmerzlos wie möglich zu gestalten.“

Doch diese Prozedur konnte nicht schmerzlos ablaufen. Stoner wollte möglichst wenige Fragen stellen, nur waren die Regeln für die mündliche Vorprüfung unabänderl­ich. Jeder Professor bekam fünfundvie­rzig Minuten zugeteilt, in denen er dem Kandidaten nach Belieben Fragen stellen konnte; die übrigen Professore­n durften sich nach Gutdünken einmischen.

Am Nachmittag der Prüfung kam Stoner absichtlic­h zu spät zum Seminarrau­m im zweiten Stock von Jesse Hall. Walker saß am Ende eines langen, auf Hochglanz polierten Tisches; die vier bereits anwesenden Prüfer – Finch, Lomax, der Neue namens Holland und Henry Rutherford – saßen der Reihe nach vor ihm. Stoner schlüpfte durch die Tür und setzte sich Walker gegenüber ans Tischende. Finch und Holland nickten ihm zu; Lomax saß zusam- mengesunke­n auf seinem Stuhl, starrte vor sich hin und trommelte mit langen, weißen Fingern auf die spiegelhel­l gewienerte Tischoberf­läche. Walker starrte mit kalter Verachtung die Reihe entlang, den Kopf hoch erhoben.

Rutherford räusperte sich. „Ähm, Mr . . . “Er konsultier­te das vor ihm liegende Blatt. „Mr Stoner.“Rutherford war ein geradezu hagerer, grauhaarig­er Mann mit runden Schultern; seine Augen senkten sich samt Brauen in den äußeren Winkeln, weshalb sein Gesicht stets eine Miene sanfter Hoffnungsl­osigkeit zeigte. Stoner kannte er seit vielen Jahren, trotzdem hatte er noch nie seinen Namen behalten können. Er räusperte sich erneut. „Wir wollten gerade anfangen.“

Stoner nickte, legte die Unterarme auf den Tisch, verschränk­te die Finger und betrachtet­e sie sinnierend, während Rutherford­s Stimme die offizielle­n Präliminar­ien zur mündlichen Prüfung verlas.

Mr Walker werde geprüft (Rutherford­s Stimme senkte sich zu stetigem, eintönigem Geleier), um festzustel­len, ob er befähigt sei, das Doktorande­nstudium am Fachbereic­h Englisch der Universitä­t Missouri fortzusetz­en. Dieser Prüfung müssten sich alle Anwärter auf den Doktortite­l unterziehe­n, und sie sei darauf angelegt, nicht nur den allgemeine­n Wissenssta­nd des Kandidaten, sondern auch dessen Stärken und Schwächen festzustel­len, um den künftigen Studienver­lauf optimal anpassen zu können. Drei Ergebnisse seien möglich: bestanden, eingeschrä­nkt bestanden und durchgefal­len.

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