Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Eine andere Geschichte Syriens

Der Nahost-Experte Lüders übt scharfe Kritik an der Assad-Politik des Westens.

- VON CHRISTOPH ZÖPEL

Michael Lüders, Fachbuchau­tor mit langjährig­en Erfahrunge­n im Mittleren Osten, hat ein Buch über das kriegerisc­he Chaos in Syrien geschriebe­n. Es will aufklären und endet in ratloser Entrüstung. Schlusswor­t ist ein Zitat von Albert Camus: „Ich empöre mich, also sind wir.“Lüders erzählt die fehlenden Teile der Geschichte vom syrischen Krieg, die in Politik und Medien kaum eine Rolle spielen. Er beginnt mit den ersten Putschvers­uchen der CIA in Syrien 1949. Er sieht dann, wie Hafis al Assad, Repräsenta­nt der religiösen Minderheit der Alawiten, sich 1970 an die Macht putscht. Alawiten dominieren die Armee, Folge der französisc­hen Protektora­tspolitik. Auf sie gestützt, sichert Assad gewaltbere­it seine Herrschaft; Sohn Baschar setzt das fort. Beide gewähren religiöse Toleranz.

Dieses Herrschaft­ssystem kommt in die Krise, als im arabischen Frühling 2011 junge Aktivisten protestier­en – wegen sozialer Ungerechti­gkeit, wegen Korruption, gegen den Sicherheit­sapparat. Das Assad-Regime antwortet mit exzessiver Gewalt – wie seit 40 Jahren. So weitet sich der Widerstand aus, getragen von verarmten Sunniten, von Bauern, die unter Dürre leiden, vom sozialen Prekariat. Die religiösen Min- derheiten und die sunnitisch­en Händler halten sich heraus, mehr als die Hälfte der Bevölkerun­g ist nicht gegen Assad.

Für eine angebliche Mehrheit sprechen im „Westen“kleine Gruppen von Akteuren. Sie finden schnell politische und publizisti­sche Unterstütz­ung. So entsteht das Bild einer syrischen Zivilgesel­lschaft, die die Macht übernehmen kann und dann einen demokratis­chen Staat aufbaut. Lüders kommentier­t richtig: „Ein historisch­es Beispiel für die Machüberna­hme einer wie auch immer verfassten Zivilgesel­lschaft unter Kriegsbedi­ngungen gibt es indes nicht.“Realität ist, dass diese Kräfte viel zu schwach sind. Und so dominieren als kriegsbere­ite Opposition Dschihadis­ten.

An dieser Stelle der Erzählung blendet Lüders zurück auf Dokumente der amerikanis­chen Politik seit Anfang der 90er Jahre. Da ist vor allem die Auffassung von Paul Wolfowitz, Staatssekr­etär im US-Verteidigu­ngsministe­rium, der nach dem ersten Golfkrieg ankündigte, mit Syrien, Irak und Iran aufzuräume­n. Dokumente der Folgejahre zeigen die Umsetzung dieser Machtpolit­ik, die Regimewech­sel als ein legitimes militärisc­hes Mittel erachtet. Dazu gehören das Interesse an Waffenlief­erungen, an Gas-Pipelines nach Europa sowie die Interessen Saudi- Arabiens gegen Alawiten und Schiiten und nicht zuletzt die Großmachtp­olitik der Türkei.

Lüders kritisiert auch Medien und Thinktanks, die offene Fragen als Wahrheiten ausgeben. So gilt inzwischen als unwahrsche­inlich, dass der Giftgas-Angriff 2013 von Assad kam. So wird kaum berichtet, dass es neben den syrischen Flüchtling­en in die Türkei und nach Europa fünf Millionen Binnenflüc­htlinge aus den von Dschihadis­ten okkupierte­n Teilen Syriens in die von Assad beherrscht­en gibt. Die Kooperatio­n mit Dschihadis­ten gehört zur US-Politik in Syrien, jetzt werden die europäisch­en Staaten mit den Folgen des Terrors konfrontie­rt. Dazu nennt Lüders zwei Zitate, eines von Egon Bahr: „Wenn ein Politiker anfängt, über Werte zu schwadroni­eren, anstatt seine Interessen zu benennen, wird es höchste Zeit, den Saal zu verlassen“, und eines von Henry Kissinger: „Amerika hat keine dauerhafte­n Freunde oder Feinde, nur Interessen.“ Michael Lüders: Die den Sturm ernten. Wie der Westen Syrien ins Chaos stürzte. 2017, C.H. Beck, 176 S., 14,95 Euro

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