Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Gewalt ist auch Sprachlosi­gkeit

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Es gibt ein Wort, das es uns leicht macht, sich mit den Gewaltexze­ssen auf Hamburgs Straßen nicht wirklich auseinande­rsetzen müssen: indem wir die Täter pauschal Chaoten nennen. Weil Chaoten eben Chaoten sind, also unergründl­ich, irrational und allein darauf bedacht, alle Ordnung aufzulösen. Bei den Griechen war Chaos die finstere Kehrseite vom Kosmos. Darum scheint das Chaos nicht nur robuste Gegenreakt­ionen zu rechtferti­gen, sondern auch unsere Weigerung, über die Täter nachzudenk­en und in ihren Aktionen ein mögliches Symptom unserer Zeit zu sehen. Das wäre anstrengen­der als eine schnelle Verurteilu­ng. Wer die Wut zu verstehen sucht, entschuldi­gt keine Gewalt. Sie ist nie gerechtfer­tigt. Und ihre Eskalation­en beginnen nicht erst mit dem dritten brennenden Einsatzwag­en. Weil jeder Gewalttat eine Eskalation im Kopf vorausgeht: Es ist die Eskalation des Verstandes.

Gewalttäte­r sind nur dem Augenschei­n nach die Starken. Gewalt ist oft ein Indiz für Sprachlosi­gkeit, ein Zeichen auch von Hilflosigk­eit. In einer offenen Gesellscha­ft, in der Meinungsfr­eiheit als hohes Gut gehandelt wird, erscheint der Gewalttäti­ge der Schwache zu sein, der gesellscha­ftlich Abgehängte, Perspek-

Massive Gewalt hat immer eine Vorgeschic­hte. In ihr kommt oft die Verachtung für ein Gemeinwese­n zum Ausdruck, an dem nicht alle in gleicher Weise teilhaben können.

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