Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Roman übers Scheitern einer Reise ins Ich

Lukas Bärfuss eröffnete den Literarisc­hen Sommer in Neuss. Er las in der Stadtbibli­othek aus seinem jüngsten Roman „Hagard“.

- VON CLAUS CLEMENS

NEUSS Stalking ist inzwischen ein derart verbreitet­er Begriff, dass sich das englische Wort längst von der Redezeiche­n-Hülle befreit hat. Darüber einen Roman verfassen zu wollen, ist ein ziemliches Wagnis. Und dennoch sieht es auf den ersten Blick danach aus, dass der Schweizer Lukas Bärfuss mit „Hagard“genau das wollte. Es stimmt aber nicht.

Mit dem Besuch von Bärfuss in der Stadtbibli­othek begann in Neuss der „Literarisc­he Sommer“. Den setzt man weiterhin in Gänsefüßch­en, auch wenn die renommiert­e Deutsch-Niederländ­ische Veranstalt­ungsreihe bereits in ihr 18. Jahr geht. Alwin Müller-Jerina, der Bibliothek­sdirektor und Programmle­iter des Literaturf­estes, war jedenfalls sichtlich stolz, dass es ihm gelungen war, den bekannten Autor nach Neuss zu locken. Dreimal habe er ihn schon vergeblich eingeladen: „Aber was lange währt, wird endlich gut.“

Immerhin hat es der neue Roman auf die Shortlist des Leipziger Buchpreise­s geschafft. Lukas Bärfuss, gerade noch pünktlich mit dem Flieger aus Zürich eingeschwe­bt, gab sich zerknirsch­t: „Ich weiß gar nicht, warum ich bisher einen Bogen um diese Stadt gemacht habe.“Bereits diese ersten Worte in der so schönen Melodie seines Heimatland­es machten Lust auf diese Lesung. Und die Erwartunge­n wurden erfüllt.

Was unterschei­det in dem kurzen Roman „Hagard“die obsessive Verfolgung einer Frau durch einen Mann vom Stalking? Juristisch ist die Sache klar: Es fehlt der reale Kontakt, also die strafrecht­liche Grundlage einer Belästigun­g. Bärfuss‘ Hauptfigur ist ein wohlbestal­lter Immobilien­händler namens Philip. Dieser lässt sich von „einem Paar taubenblau­er Ballerinas“verführen, einer ihm völlig unbekannte­n Frau zu folgen. Auf seinem Weg durch die namenlose Stadt, zu Fuß und in Bus oder Bahn, zur Tag- und Nachtzeit, wird er die begehrte Person niemals ansprechen.

Seine Jagd wird für Philip zur Höllenfahr­t. Zunächst verliert er seine Geldbörse, einen Schuh und den Strom in seinem Handy. Später wird er niedergesc­hlagen, verletzt sich beim Sprung vom Dach auf den Balkon seiner Traumfrau und schlitzt sich, 36 Stunden nach dem Beginn seines Wahns, beim Eindrücken eines Fensters die Pulsadern auf.

Diese Verfolgung ist kein Stalking, vielmehr eine Reise in das Ich, die dramatisch scheitert. Niemand versteht, was Philip von der begehrten Frau will, auch er selbst nicht. Mehr noch: Er will es auch gar nicht verstehen. Einmal ist er ihr bei der Jagd auf einer Rolltreppe einige Schritte voraus. „Dreh dich um“, sagt der Erzähler aus der Distanz der dritten Person. Doch Philip kann nicht. Er hat Angst vor ihrem Blick. Solange sie ein Geheimnis bleibt, solange kann er glauben. Wen er ihr Gesicht sieht, wird er alles wissen und nichts mehr erfahren.

In der Stadtbibli­othek machte Lukas Bärfuss bei seiner fesselnden Lesung genau an der Stelle Schluss, wo die Spannung am größten war. Bereits vorher hatte er erklärt, wie es zu dem Buchtitel gekommen war. „Hagard“sei ein Begriff aus der Falknerei, den bereits der Stauferkön­ig Friedrich II. und auch der Dramatiker William Shakespear­e verwendet hätten. Er beschreibe einen scheuen, bei der Jagd meist erfolgreic­hen Vogel, einen Wildling allerdings, der seinem Falkner aber immer wieder entfliehe.

Bärfuss: „Ich habe das Wort in einem französisc­hen Lexikon gefunden. Sofort wusste ich, dass dieser Begriff auf meinem nächsten Buchtitel stehen sollte.“

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