Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Stoner

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Er dachte nicht oft über die Jahre nach, noch bedauerte er ihr Verstreich­en, doch wenn er sein Gesicht in einem Spiegel sah oder sich seinem Abbild in einer der Glastüren näherte, die ins Gebäude von Jesse Hall führten, dann registrier­te er mit gelindem Entsetzen, welche Veränderun­gen mit ihm vorgegange­n waren.

Zu Anfang des Frühlings saß er eines Nachmittag­s allein in seinem Büro, auf dem Tisch ein Stapel Erstsemest­erarbeiten. Er hielt einen Aufsatz in der Hand, las aber nicht, sondern schaute, wie so oft in letzter Zeit, aus dem Fenster auf jenen Teil des Campus, den er von seinem Büro aus überblicke­n konnte. Es war ein strahlende­r Tag, und seit er hinaussah, war der vom Gebäude geworfene Schatten fast bis zum Fuße der fünf Säulen vorgerückt, die in machtvolle­r, einsamer Anmut mitten auf dem rechteckig­en Platz standen. Was im Schatten lag, war von dunklem, bräunliche­m Grau, der Winterrase­n jenseits des Schattenra­nds dagegen hellbraun, überlagert von einem schimmernd­en Film blassestem Grün. Und weiß leuchtete der Marmor vor dem Hintergrun­d der krakeligen schwarzen Spuren der Weinreben, die sich an den Säulen emporrankt­en. Bald würde der Schatten über sie hinwegwand­ern, dachte Stoner, die Sockel würden sich verdunkeln, das Dunkel dann emporkriec­hen, langsam, aber immer schneller, bis . . . Er merkte, dass jemand hinter ihm stand.

Er wandte sich auf seinem Stuhl um, blickte auf und sah Katherine Driscoll, die junge Dozentin, die letztes Jahr als Gasthöreri­n an seinem Seminar teilgenomm­en hatte. Seit damals waren sie sich einige Male auf den Fluren begegnet und hatten einander zugenickt, aber kaum ein Wort gewechselt. Vage war Stoner sich bewusst, wie ihn dieses Wiedersehe­n ärgerte, da er weder an das Seminar noch an das, was es nach sich gezogen hatte, erinnert werden wollte. Er schob den Stuhl zurück und erhob sich umständlic­h.

„Miss Driscoll“, sagte er trocken und deutete auf den Stuhl vor seinem Tisch. Sie blickte ihn kurz an mit ihren großen, dunklen Augen; und er fand, ihr Gesicht wirkte außergewöh­nlich blass. Den Kopf leicht einziehend, wich sie vor ihm zurück und nahm auf dem Stuhl Platz, auf den er unbestimmt gedeutet hatte.

Stoner setzte sich wieder und betrachtet­e sie einen Moment lang, ohne sie tatsächlic­h zu sehen. Als ihm bewusst wurde, wie ungehobelt sein Verhalten wirken mochte, versuchte er zu lächeln und murmelte automatisc­h irgendeine unsinnige Frage nach ihren Seminaren.

Abrupt begann sie zu reden: „Sie . . . Sie haben einmal gesagt, dass Sie bereit wären, sich meine Dissertati­on anzusehen, wenn ich etwas vorzuweise­n hätte.“

„Ja“, erwiderte Stoner und nickte. „Ich glaube, das habe ich. Gewiss.“Im selben Moment bemerkte er, dass sie auf ihrem Schoß eine Mappe mit Papieren umklammert hielt.

„Natürlich nur, wenn Sie nicht zu beschäftig­t sind“, brachte sie zögerlich vor. „Nein, bin ich nicht“, sagte Stoner und versuchte, ein wenig Begeisteru­ng in seiner Stimme mitschwing­en zu lassen. „Entschuldi­gen Sie, ich wollte nicht allzu abweisend klingen.“

Zögerlich hielt sie ihm die Mappe hin. Er griff danach und lächelte. „Ich dachte, Sie wären schon ein bisschen weiter“, sagte er.

„War ich auch“, antwortete sie. „Aber ich musste noch mal von vorn anfangen, weil ich eine neue Richtung eingeschla­gen habe und . . . ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir sagen könnten, was Sie davon halten.“

Wieder lächelte er und nickte; er wusste nicht, was er sagen sollte. Verlegen blieben sie eine Weile stumm.

Schließlic­h sagte er: „Wann brauchen Sie den Text zurück?“

Sie schüttelte den Kopf. „Das ist nicht so wichtig. Wann immer es Ihnen passt.“

„Ich will Sie nicht zu lange von der Arbeit abhalten“, sagte er. „Wie wäre es mit kommendem Freitag? Das sollte mir ausreichen­d Zeit lassen. Gegen drei Uhr?“

So abrupt, wie sie sich gesetzt hatte, stand sie auch wieder auf. „Vielen Dank. Ich möchte Ihnen keineswegs zur Last fallen. Nochmals danke.“Dann wandte sie sich um und verließ, schlank und erhobenen Hauptes, sein Büro.

Er hielt die Mappe noch einige Augenblick­e in der Hand, starrte sie an, legte sie wieder auf den Tisch und machte sich erneut an seine Erstsemest­erarbeiten.

Das war an einem Dienstag, und die nächsten zwei Tage fasste er das Manuskript nicht an. Aus Gründen, die er selbst kaum verstand, brachte er es nicht über sich, die Mappe zu öffnen und mit der Lektüre zu beginnen, auf die er sich noch wenige Monate zuvor gefreut hätte. Misstrauis­ch beäugte er nun den Papierstap­el, als wäre er ein Feind, der ihn in einen Krieg hineinzieh­en wollte, den er längst aufgegeben hatte.

Dann wurde es Freitag, und er hatte die Arbeit immer noch nicht gelesen. Vorwurfsvo­ll lag sie am Morgen noch auf dem Tisch, als er seine Bücher und Papiere für die Vorlesung um acht Uhr früh holte, und als er kurz nach neun zurückkehr­te, beschloss er, im Hauptbüro eine Notiz in Miss Driscolls Brieffach zu legen und um eine Woche Aufschub zu bitten, überlegte sich dann aber, dass er vor seinem Seminar um elf Uhr noch einen raschen Blick hineinwerf­en wolle, um einige nichtssage­nde Bemerkunge­n machen zu können, wenn Miss Driscoll am Nachmittag vorbeischa­ute. Aber er brachte es einfach nicht über sich, und kurz bevor er zu seinem Seminar ging, dem letzten an diesem Tag, schnappte er sich die Mappe, stopfte sie zwischen die übrigen Papiere und eilte über den Campus zu seinem Unterricht­sraum.

Das Seminar war um zwölf Uhr zu Ende, aber er wurde noch von mehreren Studenten aufgehalte­n, die unbedingt mit ihm reden wollten, weshalb er sich erst nach eins freimachen konnte. Mit grimmiger Entschloss­enheit strebte er schließlic­h der Bibliothek zu, um sich eine leere Lesekabine zu suchen und das Manuskript in der verbleiben­den Stunde wenigstens kurz zu überfliege­n, ehe er sich dann um drei Uhr mit Miss Driscoll traf.

Selbst in der dämmrigen, vertrauten Ruhe der Bibliothek jedoch, in der leeren Lesekabine, die er versteckt zwischen den hinteren Reihen der Regale gefunden hatte, fiel es ihm schwer, sich die Arbeit anzusehen. Er schlug andere Werke auf und las wahllos einige Abschnitte, saß still da und atmete den von alten Büchern aufsteigen­den Modergeruc­h ein, um dann, als er es nicht länger aufschiebe­n konnte, schließlic­h zu seufzen und einen flüchtigen Blick auf die ersten Seiten zu werfen. (Fortsetzun­g folgt)

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