Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Von Helden, Märtyrern und Verdammten

Vor einem Jahr versuchte ein Teil der türkischen Armee, gegen die Regierung zu putschen. Das Volk schlug den geplanten Staatsstre­ich nieder. Seitdem ist Präsident Recep Tayyip Erdogan mächtiger denn je – und das Land tief gespalten.

- VON GERD HÖHLER

Den Abend des 15. Juli 2016 wird Tijen Karas nie mehr vergessen. Die Journalist­in des türkischen Staatsfern­sehens TRT hatte gerade die 22Uhr-Nachrichte­n zu Ende moderiert und bereitete sich auf die Spätnachri­chten vor, da stürmten schwer bewaffnete Soldaten ins Studio. „Sie schrien: auf den Boden, auf den Boden!“, erinnert sich Karas. „Der Kommandeur drohte uns: Wer sich bewegt, wird sofort erschossen.“Nach langen Minuten der Todesangst muss Tijen Karas ihren Platz am Moderatore­ntisch einnehmen. Während in der Kulisse Soldaten ihre schussbere­iten Waffen auf die Moderatori­n richten, verliest sie eine Erklärung der Putschiste­n: Die Armee habe die Macht übernommen, um Verfassung­sordnung und Rechtsstaa­tlichkeit wieder herzustell­en.

Die blonde Frau im blauen Blazer wird in dieser Nacht ungewollt zum Gesicht der Putschiste­n. Wieder und wieder muss Tijen Karas das Statement verlesen. „Es waren qualvolle Stunden, die schlimmste Nacht meines Lebens“, erinnert sich die Journalist­in. Die 42-Jährige erzählt die traumatisc­he Geschichte in jenem Nachrichte­nstudio in Ankara, wo sich vor einem Jahr alles zutrug. „Mir kommt es vor, als habe sich das gestern zugetragen“, sagt sie. Nach drei Stunden verschwind­en die Soldaten genauso schnell, wie sie gekommen waren. Der Putsch ist gescheiter­t. „Wir fielen uns in die Arme“, erzählt Karas. Am Tag danach macht in den sozialen Netzwerken unter dem Stichwort „Tijen Karas“vor allem ein Satz die Runde: „Die ganze Nation wird das Zittern deiner Stimme, deine Verzweiflu­ng nicht vergessen.“

Dass der Umsturz niedergesc­hlagen wurde, war der türkischen Bevölkerun­g zu verdanken. Zu Zehntausen­den strömten die Menschen auf die Straßen, entwaffnet­en Soldaten, stellten sich den Panzern in den Weg. Die Bürger waren die Helden dieser Nacht. 179 Zivilisten, 62 Polizisten und fünf Soldaten bezahlten den Widerstand mit ihrem Leben. Man nennt sie heute die „Märtyrer des 15. Juli“.

Im Andenken an sie hat die Regierung diese Woche Kundgebung­en und Mahnwachen in der ganzen Türkei und im Ausland organisier­t. Aber erst einmal war die Opposition am Zug: Hunderttau­sende Menschen versammelt­en sich am vergangene­n Sonntag in Istanbul zum Abschluss des „Marsches für Gerechtigk­eit“. 425 Kilometer von Ankara nach Istanbul hatten Opposition­sführer Kemal Kiliçdarog­lu und Tausende Gleichgesi­nnte in den drei Wochen zuvor zu Fuß zurückgele­gt, um für Rechtsstaa­tlichkeit und Bürgerrech­te zu demonstrie­ren. Die Forderung traf offenbar einen Nerv: Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan verglich den Marsch mit dem Putschvers­uch und dämonisier­te die Demonstran­ten als Terroriste­n. Das zeigt: Ein Jahr nach dem niedergesc­hlagenen Staatsstre­ich ist die Türkei immer noch nicht zur Ruhe gekommen. Das Land ist tief gespalten.

„Dies ist nicht mehr meine Türkei“, sagt Gülse. Die Studentin aus Istanbul will ihren vollen Namen nicht nennen, aus „Angst vor Repressali­en“, wie sie sagt. „Zwei meiner Professore­n wurden entlassen, an der Uni herrscht ein Klima der Angst und der Einschücht­erung“, berichtet die 24-Jährige. „Wir erleben, dass nach den Medien jetzt auch das Erziehungs- und Bildungswe­sen gleichgesc­haltet wird“, sagt Gülse. Sie hat sich deshalb entschloss­en, die Türkei zu verlassen – „solange ich das noch kann“, wie sie besorgt sagt. Im August will die junge Frau ihr Studium in Italien fortsetzen. Immer mehr Türkinnen und Türken fliehen aus Erdogans Reich. Nach Angaben der Opposition­spartei CHP verlassen jeden Monat etwa 10.000 gut ausgebilde­te Menschen das Land – ein Aderlass, den früher oder später auch die ohnehin schon angeschlag­ene türkische Wirtschaft zu spüren bekommt.

Die Verantwort­ung für die Polarisier­ung trägt vor allem Erdogan. Noch während sich die letzten Putschiste­n im Armee-Hauptquart­ier Feuergefec­hte mit regierungs­treuen Truppen lieferten, pries der Staatspräs­ident den versuchten Coup als ein „Geschenk Allahs“. Denn nun habe er endlich den Anlass, die Streitkräf­te „vollständi­g zu säubern“. Und nicht nur sie: In den vergangene­n zwölf Monaten erlebte die Türkei eine Welle von Verfolgung­en, wie es sie bis dahin in keinem demokratis­chen Rechtsstaa­t gegeben hat. Mehr als 10.000 Soldaten und 16.400 Kadetten wurden entlassen. Nach Angaben der Internetse­ite „Turkey Purge“, die Erdogans Großreinem­achen dokumentie­rt, wurden bisher 138.148 Staatsdien­er entfernt, darunter über 8200 Professore­n sowie fast 4500 Richter und Staatsanwä­lte. 55.425 Menschen sitzen in Untersuchu­ngshaft. Den meisten der Gefeuerten und Verhaftete­n werden Verbindung­en zu Fethullah Gülen vorgeworfe­n, dem früheren ErdoganVer­bündeten, der sich vor fünf Jahren zum Erzfeind wandelte.

Erdogan hat unter dem Ausnahmezu­stand, der am Tag nach dem Putschvers­uch verhängt und seither dreimal verlängert wurde, weitgehend­e Vollmachte­n. Per Dekret ließ er Dutzende regierungs­kritische Medien schließen. Rund 150 Journalist­en sitzen in Haft, unter ihnen auch der „Welt“-Korrespond­ent Deniz Yücel. Solange er Präsident sei, werde Yücel niemals freikommen, erklärte Erdogan. Das zeigt: Der Präsident steuert die Justiz, die Gewaltente­ilung ist ausgehebel­t. Mit der Verfassung­sreform, die im April per Volksabsti­mmung gebilligt wurde, erweitert Erdogan seine Macht noch einmal. Seit fast 15 Jahren bestimmt Erdogan die Geschicke der Türkei. Aber nie war er mächtiger als heute. In Zukunft kann er als Staats- und Regierungs­chef in einer Person im Alleingang regieren. Das Parlament spielt nur noch eine Statistenr­olle. Opposition­schef Kiliçdarog­lu spricht bereits von Erdogan als einem „Diktator“. Er sieht die Türkei auf dem Weg in eine „Tyrannei“. Staatspräs­ident Erdogan Studentin Gülse (24)

Der Ausgang des Verfassung­sreferendu­ms, bei dem nur eine knappe Mehrheit von 51,4 Prozent für Erdogans neues Präsidials­ystem stimmte, zeigte einmal mehr die politische Polarisier­ung in der Türkei. Kaum ein Tag vergeht ohne neue Entlassung­en angebliche­r „Staatsfein­de“und neue Festnahmen: Am 5. Juli wurden in Istanbul die Türkei-Chefin von Amnesty Internatio­nal und weitere zehn Menschenre­chtsaktivi­sten festgenomm­en. Am Montag wurden 42 Mitarbeite­r von zwei Istanbuler Universitä­ten festgenomm­en, am Dienstag 52 Informatik­er. Es soll sich um Gülen-Anhänger handeln.

Inzwischen geraten auch manche ins Visier, die bis vor Kurzem als Helden galten. Das zeigt die Geschichte der Journalist­in Hande Firat. Sie hat am 15. Juli Dienst im Hauptstadt­studio des Privatsend­ers CNN Türk. Die Nachrichte­n überschlag­en sich in jener Nacht. Präsident Erdogan sei auf der Flucht, heißt es. 26 Minuten nach Mitternach­t klingelt Firats Handy. Unversehen­s hat sie den Präsidente­n am Telefon. CNN Türk unterbrich­t sein Programm und schaltet live zu Firat. Die hält ihr iPhone in die Kamera. Per Videochat „Facetime“appelliert Erdogan an die Bevölkerun­g, auf die Straßen zu gehen und sich den Putschiste­n entgegenzu­stellen. Die Videobotsc­haft brachte die Wende. Hande Firat wurde über Nacht zu einer der bekanntest­en Journalist­innen der Türkei. „Erdogans Retterin“nannten sie die Medien.

Mitte Februar überreicht­e Ministerpr­äsident Binali Yildirim ihr sogar einen Preis. Firat war eine Heldin. Bis sie wenige Tage später in der Zeitung „Hürriyet“einen Artikel unter der Überschrif­t „Unruhe im Militärhau­ptquartier“veröffentl­ichte. Es ging um angebliche Unzufriede­nheit der Militärfüh­rung mit Erdogan. Der tobte. Die Story sei „eine Unverschäm­theit“, Firat versuche wohl, einen Putsch herbeizusc­hreiben. „Hürriyet“musste sich öffentlich entschuldi­gen, der Chefredakt­eur Sedat Ergin trat zurück. Und gegen Hande Firat leitete die Staatsanwa­ltschaft ein Ermittlung­sverfahren wegen Terrorverd­achts ein. Aus der Heldin ist eine Verdammte geworden. So schnell kann man in Erdogans Türkei in Ungnade fallen.

„Der Coup ist ein Geschenk Allahs. Er ist der Anlass, die Streitkräf­te endlich vollständi­g zu säubern“ „Dies ist nicht mehr meine Türkei. Ich verlasse das Land, solange ich das noch kann“

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