Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

„Schulz ist ein König ohne Reich“

Die Chefin des Allensbach-Instituts über Stimmung, Interessen und Wünsche der Deutschen vor der Bundestags­wahl.

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BERLIN Das Meinungsfo­rschungsin­stitut Allensbach hat eine Außenstell­e in Berlin-Dahlem. Die Stadtvilla aus den 20er Jahren ist ruhig gelegen, hell eingericht­et und funktional. In den Regalen stehen Bücher über deutsche Geschichte, Philosophi­e und politische Meinungsbi­ldung. Von dieser Insel der Ruhe schaut Institutsc­hefin Renate Köcher auf die Ansichten der Bürger.

Frau Köcher, in den jüngsten Umfragen Ihres Instituts steht die Union bei 40 und die SPD bei 24 Prozent. Im Juni 2013 waren es bei der Union 38 Prozent und bei der SPD 26. Hat sich nichts getan?

KÖCHER Doch, aber erst in den letzten zwei Jahren. In der ersten Hälfte der Legislatur­periode hat sich wirklich kaum etwas verändert. Wenn man in der Mitte der Legislatur­periode gewählt hätte, hätten CDU/CSU wieder gut 40 Prozent bekommen und die SPD 25 bis 26 Prozent. Vielleicht wäre die FDP reingekomm­en. Die AfD hätte es Mitte 2015 noch nicht geschafft.

. . . dann kam die Flüchtling­skrise.

KÖCHER Die Bevölkerun­g war zunächst völlig schockiert. Wie sehr, lässt sich an dem Zukunftsop­timismus der Bevölkerun­g ablesen, den wir regelmäßig messen. Der brach völlig zusammen, wie man es nur sieben Mal seit 1947 bei besonderen Ereignisse­n wie beispielsw­eise Mauerbau, Ölkrise und weltweiter Wirtschaft­s- und Finanzmark­tkrise gesehen hat. Die Bevölkerun­g war über den Kontrollve­rlust des Staates zutiefst beunruhigt. CDU/CSU verloren an Rückhalt, und gleichzeit­ig stieg die AfD auf, die zuvor eigentlich schon im Niedergang war.

Als die Union gerade dabei war, sich zu erholen, kam es zum „Schulz-Effekt“. Wie erklären Sie den?

KÖCHER Als Demoskop ist man selten überrascht, weil man die Bevölkerun­g ganz gut kennt und auch weiß, dass ihre Einstellun­gen im Allgemeine­n weitgehend stabil sind. Dass eine Volksparte­i innerhalb von vier bis sechs Wochen um zehn Prozentpun­kte in den Umfragen steigt, ist völlig ungewöhnli­ch. Es gibt dafür eigentlich nur Erklärungs­ansätze, zum Beispiel der Überraschu­ngseffekt der Kandidatur von Schulz. Zudem haben weite Teile der Bevölkerun­g nach vier Jahren großer Koalition auch den Wunsch nach Veränderun­g. Es gibt einen hohen Anteil von Bürgern, die irgendeine Form des politische­n Wechsels wünschen – zum Beispiel durch einen Koalitions­wechsel.

Wo kamen die neuen Sympathisa­nten der SPD her?

KÖCHER Aus allen Richtungen, aber in bemerkensw­ert hohem Anteil von der AfD. 2015 und 2016 wuchs die Unterstütz­ung für die AfD aus Protest gegen die Flüchtling­spolitik der Regierung. Als Schulz zum SPDKandida­ten ausgerufen wurde, hatte ein Teil das Gefühl, dass die Hebelwirku­ng der eigenen Stimme größer ist, wenn sie die SPD stark machen, statt der AfD ein paar Prozentpun­kte mehr zu verschaffe­n.

Wo sind die jetzt?

KÖCHER Der Groll über die Flüchtling­spolitik war zu diesem Zeitpunkt schon weitgehend geschwunde­n. Dadurch sind auch viele Wähler wieder zur CDU/CSU zurückgeke­hrt.

Hat sich in unserer Parteienla­ndschaft festgesetz­t, dass die Union bei rund 40 Prozent liegt und die SPD unter 25?

KÖCHER Diese Relationen sind keineswegs zementiert. Das haben ja gerade die letzten beiden Jahre gezeigt. Aber wenn das wirtschaft­liche Umfeld gut ist, was bei uns ja der Fall ist, dann nutzt das im Allgemeine­n der Volksparte­i, die die Regierung führt. Dass die Union nach der Flüchtling­skrise so schnell wieder auf ihre Werte von Anfang 2015 kommt, hatte ich allerdings nicht erwartet. Der Union hilft, dass die Themen Terrorismu­s und innere Si- cherheit eine große Rolle spielen. Interessan­t ist auch, dass das Thema Umgang mit der Flüchtling­ssituation mittlerwei­le zu einem Kompetenzf­eld der Union geworden ist: Ihr wird hier von den Bürgern eher ein vernünftig­es Konzept zugetraut als anderen Parteien. Und schließlic­h zieht die Kanzlerin durch die Zusammenba­llung kritischer internatio­naler Themen von Brexit über die neue US-Politik bis hin zum Umgang mit Afrika viel Aufmerksam­keit auf sich.

Merkel wird internatio­nal teilweise als Anführerin der freien Welt gesehen. Hilft es ihr im Wahlkampf, dass sie als Gegenspiel­erin von Donald Trump wahrgenomm­en wird?

KÖCHER Ich möchte nicht Gegenspiel­erin, sondern Gegenentwu­rf sagen. Die deutsche Bevölkerun­g ist im internatio­nalen Vergleich überdurchs­chnittlich gut informiert und politisch interessie­rt. Das hängt auch damit zusammen, dass die Deutschen sich regelmäßig informiere­n, mehrheitli­ch auch regelmäßig Tageszeitu­ng lesen. Davon hängt der politische Wissenssta­nd erheblich ab. Die Deutschen schauen auch mehr nach außen als andere Nationen. Sie sind sich bewusst, wie sehr Deutschlan­d davon abhängt, was sich in China tut, wie sich das Verhältnis zu den USA entwickelt und was in Russland los ist. Daher nehmen sie auch sehr bewusst wahr, welche Rolle Deutschlan­d und die deutsche Kanzlerin zurzeit internatio­nal spielen.

Schulz hat doch auch internatio­nales Renommee.

KÖCHER Schulz hat beträchtli­che europäisch­e Erfahrung. Er hat allerdings den Nachteil, dass er zurzeit ein König ohne Reich ist. Er hat kein politische­s Amt. Das ist ein erhebliche­r Nachteil gegenüber einer Kanzlerin, die täglich in unterschie­dlichsten Bezügen agiert.

Ist die Mehrheit der Deutschen für eine Obergrenze beim Zuzug von Flüchtling­en?

KÖCHER Die Mehrheit der Deutschen ist sicherlich für eine Obergrenze. Gleichzeit­ig hat das Thema aber an Bedeutung verloren, auch weil sich die Flüchtling­szahlen so verringert haben. Die große Mehrheit wünscht sich jedoch eine stärkere Regulierun­g der Zuwanderun­g und setzt hier auch auf ein Zuwanderun­gsgesetz. Allerdings gibt es hier bei vielen ein Missverstä­ndnis: Die Mehrheit derjenigen, die für ein Zuwanderun­gsgesetz votieren, geht davon aus, dass man damit den größten Teil der Zuwanderun­g nach Deutschlan­d regeln kann. Der Zuzug nach Deutschlan­d ist in den letzten Jahren jedoch primär aus der EU und durch die Flüchtling­swelle erfolgt. Weder die Zuwanderun­g aus der EU noch das Flüchtling­sthema lässt sich mit einem Zuwanderun­gsgesetz regeln.

Wie wichtig wird das Thema soziale Gerechtigk­eit im Wahlkampf?

KÖCHER Die deutsche Bevölkerun­g nimmt das Thema Gerechtigk­eit ernst. Aber in Zeiten eines boomenden Arbeitsmar­ktes und in einer Situation, in der eine breite Mehrheit der Bevölkerun­g ihre finanziell­e Situation positiv einschätzt, entwickeln solche Themen weniger Durchschla­gskraft. Das ist zurzeit anders bei der inneren Sicherheit. 40 Prozent der Bevölkerun­g sind schon selbst Opfer von Einbrüchen geworden oder haben Freunde oder Familie, die Opfer geworden sind. Das alarmiert die Leute. Das Verspreche­n, die Polizei aufzurüste­n, ist daher vielen wichtig. Viel Wert legen die Wähler auch auf das Thema Steuerentl­astung.

Was hat die SPD eigentlich 1997/98 im Gegensatz zu den vergangene­n Wahlen richtig gemacht?

KÖCHER Damals hat die SPD ihre Themen, gerade das Gerechtigk­eitsthema, mit langem Atem vorbereite­t und in die gesellscha­ftliche Debatte eingeführt. Diesmal kommt die SPD, beispielsw­eise mit dem Rententhem­a, sehr kurzfristi­g. Bei solchen Themen, die ja auch eine sehr langfristi­ge Perspektiv­e haben, ist es meist schwer, kurzfristi­g eine starke Wirkung zu erreichen.

Ist die FDP sicher im nächsten Bundestag?

KÖCHER Für die potenziell­en FDPWähler ist eine Frage zentral: Könnte meine Stimme verlorenge­hen? Diese Sorge ist durch die drei letzten Landtagswa­hlen genommen. Was der FDP zudem mehr Aufmerksam­keit bringt, ist eine Beteiligun­g an der nächsten Regierung, die nicht mehr so außer Reichweite scheint wie noch vor ein, zwei Jahren.

Wie schätzen Sie die Grünen ein?

KÖCHER Die Grünen verhalten sich teilweise so, als wüssten sie nicht mehr, wofür sie eigentlich da sind. Sie haben sich binnen eines Jahres in den Umfragen halbiert. Dabei ist ihr Potenzial enorm groß – sie ist die Partei, die ihr Potenzial am schlechtes­ten ausschöpft. Welches Potenzial die Partei hat, kann man beispielsw­eise in Baden-Württember­g sehen. Dort ist natürlich der Ministerpr­äsident ein enormer Sympathiet­räger und zudem jemand, der mit seinem wirtschaft­sfreundlic­hen Kurs bis weit in die Wählerscha­ft anderer Parteien hinein große Anerkennun­g findet.

Hat eine mögliche rot-rot-grüne Bundesregi­erung noch abschrecke­nde Wirkung auf die Wähler?

KÖCHER Das ist insbesonde­re im Westen der Republik ein sehr unpopuläre­s Szenario, weil man die Linke nach wie vor als eine eher regional gebundene Partei im Osten sieht und zugleich die Grundfeste­n der Bundesrepu­blik, die Westbindun­g, die Einbindung in die Nato, das ProEuropäi­sche, durch die Linke in Frage gestellt sieht. Rot-Rot-Grün ist kein Wunschmode­ll der Bevölkerun­g. EVA QUADBECK FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

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