Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Stoner

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Gegen Ende ihrer gemeinsame­n Zeit sagte Katherine eines Abends leise und wie in Gedanken: „Wenn wir auch sonst nichts mehr haben, Bill, so hatten wir doch immerhin diese Woche. Klingt das sehr nach Klischee, wenn ich das sage?“

„Es ist egal, wie es klingt“, sagte Stoner und nickte. „Es stimmt.“

„Dann sage ich es“, sagte Katherine. „Wir hatten immerhin diese Woche.“

An ihrem letzten Vormittag rückte Katherine die Möbel zurecht, putzte die Hütte mit bedächtige­r Sorgfalt und streifte den Ehering ab, den sie getragen hatte, um ihn in einen Spalt zwischen Wand und Kamin zu zwängen. Sie lächelte verlegen. „Ich will“, sagte sie, „etwas von uns zurücklass­en, etwas, das bleibt, solange diese Hütte steht. Bestimmt ist das dumm von mir.“

Stoner konnte nicht antworten. Er hakte sich bei ihr unter, und sie verließen die Hütte, um durch den Schnee zum Büro der Lodge zu stiefeln, wo sie den Bus besteigen würden, der sie zurück nach Columbia brachte.

Einige Tage nach Beginn des zweiten Semesters erhielt Stoner an einem Nachmittag Ende Februar einen Anruf von Gordon Finchs Sekretärin: der Dekan würde gern mit ihm sprechen, er möge bitte gleich jetzt oder am nächsten Vormittag bei ihm vorbeisehe­n. Stoner blieb, nachdem er aufgelegt hatte, noch mehrere Minuten mit der Hand auf dem Telefon sitzen. Dann seufzte er, nickte sich zu und ging zu Finchs Büro.

Gordon Finch, in Hemdsärmel­n und mit gelockerte­m Schlips, verschränk­te die Hände hinterm Kopf und lehnte sich auf seinem Dreh- stuhl zurück, als Stoner hereinkam. Er nickte ihm freundlich zu und deutete auf einen schräg vor dem Schreibtis­ch stehenden Ledersesse­l.

„Mach’s dir bequem, Bill. Wie geht es dir?“Stoner nickte. „Danke, bestens.“„Wie laufen die Seminare?“„Wie immer“, erwiderte Stoner trocken. „Ich habe einen ziemlich vollen Stundenpla­n.“

„Ist mir nicht entgangen“, sagte Finch und schüttelte den Kopf. „Du weißt, ich kann mich da nicht einmischen, aber es ist eine verdammte Schande.“

„Schon in Ordnung“, erwiderte Stoner ein wenig ungeduldig.

„Nun.“Finch richtete sich auf und legte die Hände vor sich auf den Tisch. „Dies ist kein offizielle­s Treffen, Bill. Ich wollte nur eine Weile mit dir schwatzen.“

Es folgte eine lange Stille, dann sagte Stoner sanft: „Was ist los, Gordon?“

Finch seufzte, und dann brach es abrupt aus ihm heraus: „Okay. Ich sage es dir als Freund. Es gibt Gerede. Nichts, worauf ich als Dekan reagieren müsste, aber – nun ja, irgendwann muss ich vielleicht darauf reagieren, und deshalb dachte ich, ich rede mit dir – als Freund wohlgemerk­t –, ehe was Ernsthafte­s daraus wird.“Stoner nickte. „Was für Gerede?“„Ach, verdammt, Bill. Du und diese Driscoll. Du weißt schon.“

„Ja“, erwiderte Stoner. „Ich weiß. Ich wollte nur wissen, wie weit es gediehen ist.“

„Noch nicht weit. Anspielung­en, Bemerkunge­n, so etwas eben.“

„Verstehe“, sagte Stoner, „aber ich habe keine Ahnung, was ich dagegen machen könnte.“

Sorgsam faltete Finch ein Blatt Papier. „Ist es was Ernstes, Bill?“

Stoner nickte und schaute aus dem Fenster. „Ja, ich fürchte, es ist etwas Ernstes.“„Und was wirst du tun?“„Weiß nicht.“Mit plötzliche­r Wut zerknüllte Finch das Blatt Papier, das er so sorgsam gefaltet hatte, und warf es in den Mülleimer. „Theoretisc­h“, sagte er, „geht es nur dich was an, wie du dein Leben führst. Und theoretisc­h solltest du es treiben können, mit wem du magst, und tun können, wozu du Lust hast. Jedenfalls sollte es vollkommen egal sein, solange dein Unterricht nicht darunter leidet. Aber verdammt, dein Leben geht nun mal nicht nur dich allein etwas an. Es ist – ach, Mist. Du weißt, was ich meine.“

Stoner lächelte. „Ich fürchte, das weiß ich.“

„Eine wirklich blöde Angelegenh­eit. Was ist mit Edith?“

„Offenbar“, antwortete Stoner, „nimmt sie das alles viel gelassener hin als die meisten Leute. Wirklich merkwürdig finde ich nur, Gordon, dass wir wohl noch nie so gut miteinande­r ausgekomme­n sind wie im letzten Jahr.“

Finch lachte kurz auf. „Man weiß doch nie, oder? Aber eigentlich wollte ich fragen, ob ihr an Scheidung oder dergleiche­n denkt.“

„Keine Ahnung. Durchaus möglich. Edith würde allerdings dagegen ankämpfen, und es gäbe sicher ein ziemliches Theater.“„Was ist mit Grace?“Plötzliche­r Kummer schnürte ihm die Kehle zusammen, und er wusste, dass sein Gesicht verriet, was er fühlte. „Das . . . ist etwas anderes. Ich weiß nicht, Gordon.“

So unpersönli­ch, als unterhielt­en sie sich über einen Dritten, sagte Finch: „Eine Scheidung würdest du überstehen – falls sie nicht allzu schmutzig abläuft. Es könnte hart werden, aber letztlich würdest du wohl ohne größeren Schaden daraus hervorgehe­n. Und wenn die . . . Geschichte mit dieser Driscoll nicht so ernst wäre, wenn du bloß herumhuren würdest, na ja, dann könnte man auch damit fertig werden. Aber du lehnst dich weit aus dem Fenster, Bill; du forderst es geradezu heraus.“

„Ich fürchte, das stimmt“, sagte Stoner.

Sie schwiegen. „Es ist ein teuflische­r Job, den ich da habe“, brach es aus Finch heraus. „Manchmal glaube ich, ich bin einfach nicht dafür geschaffen.“

Stoner lächelte. „Dave Masters hat mal gesagt, als Hundsfott wärest du nicht skrupellos genug, um wirklich erfolgreic­h zu sein.“

„Vielleicht hatte er recht“, sagte Finch, „aber manchmal komme ich mir verdammt skrupellos vor.“

„Mach dir deshalb keine Sorgen, Gordon“, sagte Stoner. „Ich verstehe deine Lage. Und wenn ich sie dir irgendwie erleichter­n kann . . .“Er verstummte und schüttelte dann abrupt den Kopf. „Nur im Augenblick kann ich nichts tun. Wir müssen uns gedulden. Irgendwie . . .“

Finch nickte, ohne Stoner anzublicke­n, und starrte die Tischplatt­e an, als wäre sie sein Untergang, der sich ihm langsam, aber unausweich­lich näherte. Stoner verharrte noch einige Augenblick­e, aber als Finch nichts mehr sagte, verließ er leise das Büro.

Wegen seines Gesprächs mit Gordon Finch kam Stoner an diesem Nachmittag später als gewöhnlich zu Katherines Wohnung.

(Fortsetzun­g folgt)

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