Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

„Cumhuriyet“-Prozess hat begonnen

Seit Monaten sitzen Mitarbeite­r der türkischen Zeitung in U-Haft. Nun stehen sie wegen des Verdachts auf Terrorunte­rstützung vor Gericht.

- VON FRANK NORDHAUSEN

NIKOSIA Mit einem Eklat hat in Istanbul gestern Morgen der Prozess gegen 17 Redakteure, Reporter und Manager von „Cumhuriyet“(„Republik“), der bedeutends­ten regierungs­kritischen Zeitung des Landes, begonnen. Als der Richter den seit 267 Tagen inhaftiert­en „Cumhuriyet“-Chefredakt­eur Murat Sabuncu aufruft, beklagt sich der Journalist, dass man ihm seine Unterlagen abgenommen habe. „Ohne sie rede ich nicht.“Ein Murren geht durch den überfüllte­n Gerichtssa­al. Trotz des enormen Publikumsa­ndrangs hat die Justizverw­altung einen viel zu kleinen Raum ausgewählt, in dem sich neben den Ange- klagten rund 50 Anwälte und mindestens 150 Besucher drängen. Es ist unerträgli­ch heiß, weil die Klimaanlag­e nicht funktionie­rt.

Kurz vor der Mittagspau­se kommt der erste Angeklagte ausführlic­h zu Wort: der renommiert­e politische Kolumnist Kadri Gürsel. Der auch vor Gericht elegant gekleidete Kosmopolit nimmt die Anklage gegen ihn Punkt für Punkt auseinande­r. Ihm wird vorgeworfe­n, er habe Handy-Textnachri­chten von Mitglieder­n der Bewegung des Islampredi­gers Fethullah Gülen erhalten, die der Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan für den Putschvers­uch verantwort­lich macht. Die Staatsanwa­ltschaft wertet dies als Beweis für Gürsels Mitgliedsc­haft bei den Gülenisten. Doch der Journalist erklärt, er habe die Nachrichte­n zwar bekommen, aber nicht geöffnet. „Es hat keine zweiseitig­e Kommunikat­ion gegeben.“

Gürsel ist nur einer von vielen Angeklagte­n: Fast die gesamte journalist­ische und unternehme­rische Führungseb­ene von „Cumhuriyet“steht vor Gericht. Elf Mitarbeite­r sitzen seit sieben bis neun Monaten in Untersuchu­ngshaft, fünf sind noch auf freiem Fuß, der Ex-Chefredakt­eur Can Dündar lebt im Exil in Deutschlan­d. „Hier geht es nicht nur um unsere Zeitung, hier steht die Pressefrei­heit auf dem Spiel“, sagte Dündar, der den Prozess in Berlin verfolgt, gegenüber dem Recherchez­entrum „Correctiv“. Den Angeklagte­n drohen Haftstrafe­n von bis zu 43 Jahren. Die meisten Vorwürfe betreffen ihre journalist­ische Arbeit. Als „Beweise“für die angebliche Unterstütz­ung von Terrororga­nisationen werden beispielsw­eise Artikel angeführt, in denen „Cumhuriyet“einen Waffentran­sport des türkischen Geheimdien­stes MIT an syrische Islamisten aufdeckte, oder Interviews mit Anführern der verbotenen kurdischen Arbeiterpa­rtei PKK. Alles normale journalist­ische Arbeit, wie der ebenfalls angeklagte „Cumhuriyet“-Geschäftsf­ührer Akin Atalay darlegt. Er versucht zudem, dem Gericht zu erklären, wie die Arbeitsabl­äufe bei „Cumhuriyet“zwischen der Redaktion und der die Zeitung tragenden unabhängig­en Stiftung funktionie­ren. So will er den bizarren Vorwurf entkräften, dass die redaktione­lle Ausrichtun­g der Zeitung unter Can Dündar radikalisi­ert worden sei.

„Ich weiß nicht, ob den Richtern klar ist, welche Grenzübers­chreitung sie begehen“, sagt die deutsche Grünen-Europaabge­ordnete Rebecca Harms, die zusammen mit zahlreiche­n internatio­nalen Beobachter­n den Prozess verfolgt. „Ich glaube, es geht in diesem Prozess gar nicht um die individuel­len Journalist­en. Es geht darum, die Arbeit der Zeitung ‚Cumhuriyet‘ unmöglich zu machen sowie Angst und Schrecken zu verbreiten, damit sich niemand mehr Erdogans Politik widersetzt.“

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FOTO: DPA Ein Demonstran­t hält eine Ausgabe der „Cumhuriyet“in der Hand.

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