Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Stoner
Er ging zurück in sein Büro, setzte sich an den Tisch, wartete und schaute durch die offene Tür. Nach wenigen Minuten hörte er weiter unten im Flur eine Tür zuknallen, vernahm unregelmäßige Schritte und sah Lomax an seinem Büro vorüberhasten, so rasch es ihm sein Humpeln erlaubte. Stoner rührte sich nicht von seinem Beobachtungsposten. Kaum eine halbe Stunde später hörte er, wie Lomax langsam, schleppend, die Treppe heraufkam, und sah ihn erneut an seinem Büro vorübergehen. Er wartete, bis er vernahm, wie irgendwo auf dem Flur eine Tür geschlossen wurde, nickte, stand auf und ging nach Hause.
Erst einige Wochen später erfuhr Stoner von Finch, was an jenem Nachmittag passiert war, an dem Lomax in sein Büro gestürmt kam. Lomax beklagte sich bitterlich über Stoners Verhalten und erklärte, dass er, Stoner, in seinem Grundkurs Stoff unterrichtete, der in den Kurs Mittelenglisch für Fortgeschrittene gehöre, weshalb Lomax von Finch verlangte, dass er disziplinarische Maßnahmen ergreife. Darauf waren sie beide einen Moment still. Finch wollte etwas sagen, aber dann prustete er einfach los. Er lachte lange und versuchte immer wieder, etwas zu sagen, doch wurden seine Worte stets von neuen Lachanfällen verschluckt. Als er sich schließlich wieder beruhigt hatte, entschuldigte er sich bei Lomax für diesen Gefühlsausbruch und sagte: „Jetzt hat er Sie, Holly, verstehen Sie? Er wird auch nicht locker lassen, und Sie können verdammt noch mal nicht das Geringste dagegen tun. Sie wollen, dass ich Job für Sie erledige? Was glauben Sie, wie das ankommt – ein Dekan mischt sich in
Ihren
den Unterricht eines Seniorprofessors des Fachbereichs ein, und das auch noch auf Betreiben des Fachbereichsvorsitzenden? Nein, Sir. Damit müssen Sie selbst fertig werden, so gut Sie es eben können. Aber Ihnen bleibt da wirklich keine große Wahl, oder?“
Zwei Wochen nach diesem Gespräch erhielt Stoner ein Memorandum aus Lomax’ Büro. Man informierte ihn, dass sich sein Lehrplan für das nächste Semester geändert habe und er wieder ein Doktorandenseminar über den Einfluss der lateinischen Dichter auf die Literatur der Renaissance halten werde, ein Oberseminar für mittelenglische Literatur und Sprache sowie den Einführungskurs Literatur für Zweitsemester und einen Grundkurs für Erstsemester.
Es war auf seine Weise gewiss ein Triumph, doch einer, für den Stoner stets nur ein wenig amüsierte Verachtung hegte, beinahe so, als wäre der Sieg durch Langeweile und Gleichgültigkeit errungen worden.
Und das zählte bald zu den Legenden, die sich um seinen Namen zu ranken begannen, Legenden, die Jahr um Jahr ausgeschmückt und verfeinert wurden und sich wie Mythen von persönlicher Tatsache zu ritueller Wahrheit weiterentwickelten.
Er war Ende vierzig, sah aber um Jahre älter aus. Das in seiner Jugend dichte, unbändige Haar war nun fast völlig weiß, das Gesicht zerfurcht, und die Augen lagen tief in ihren Höhlen. Die Schwerhörigkeit, die in dem Sommer nach dem Ende seiner Affäre mit Katherine Driscoll begonnen hatte, wurde Jahr um Jahr schlimmer, weshalb er, wenn er jemandem zuhörte, den Kopf schief legte und sein Gegenüber so aufmerksam musterte, als sinnierte er über eine rätselhafte Spezies nach, die er nicht ganz einzuordnen wusste.
Diese Schwerhörigkeit war übrigens etwas eigenartig, denn obwohl er oft Mühe hatte, denjenigen zu verstehen, der unmittelbar vor ihm stand, konnte er manchmal eine am anderen Ende eines lärmenden Saales gemurmelte Unterhaltung in aller Deutlichkeit hören. Durch diesen Trick erfuhr er so auch nach und nach, dass man ihn an der Universität – um es mit einem in seiner Jugend geläufigen Wort zu benennen – für einen Kauz hielt.
Immer wieder konnte er die weidlich ausgeschmückte Geschichte hören, wie er vor einer Schar Erstsemester Mittelenglisch unterrichtete, bis Lomax schließlich kapitulieren musste. „Und ratet mal, welches Seminar am besten abgeschnitten hat, als die Erstsemester des Jahrgangs siebenunddreißig die Grundprüfung Englisch abgelegt haben?“, fragte widerstrebend ein junger Dozent, der den Einführungskurs Englisch gab. „Natürlich die Mittelenglischmeute vom alten Stoner. Und wir strampeln uns immer noch mit Übungsheften und Handbüchern ab!“
Stoner musste zugeben, dass er in den Augen der jüngeren Dozenten und älteren Studenten – die offenbar kamen und gingen, noch ehe er mit ihren Gesichtern einen Namen verbinden konnte – zu einer beinahe mythischen Gestalt geworden war, mochte die Funktion dieser Gestalt auch noch so veränderlich und unterschiedlich sein.
Manchmal war er der Bösewicht. In einer Version, die zu erklären versuchte, wie es zu dieser langen Fehde zwischen ihm und Lomax kam, hatte er eine junge Doktorandin verführt und sitzen gelassen, für die Lo- max eine lautere und ehrenwerte Liebe hegte. Manchmal war er der Narr: Einer anderen Version derselben Geschichte zufolge weigerte er sich, mit Lomax zu sprechen, weil Lomax einmal kein Empfehlungsschreiben für eine von Stoners Doktorandinnen ausgestellt hatte. Und manchmal war er der Held: In einer letzten, aber nicht allzu oft akzeptierten Version wurde er von Lomax gehasst und nicht befördert, weil er Lomax dabei ertappt hatte, wie dieser einer seiner Lieblingsstudentinnen eine Kopie der Prüfungsfragen für einen von Stoners Kursen gab.
Die Legende wurde auch von seinem Verhalten in den Seminaren genährt. Mit den Jahren wirkte er immer abwesender, zugleich aber hellwach. Vorlesungen und Gespräche begann er zögerlich und umständlich, vertiefte sich dann jedoch so rasch ins Thema, dass er nichts und niemanden mehr um sich her wahrzunehmen schien. Einmal war ein Treffen mehrerer Mitglieder des Universitätskuratoriums sowie des Präsidenten der Universität in jenem Konferenzzimmer anberaumt, in dem Stoner sein Seminar über den Einfluss des Lateinischen abhielt; man hatte ihn über dieses Treffen informiert, doch hatte er es wieder vergessen, weshalb er sein Seminar zur gewohnten Zeit am gewohnten Ort abhielt. Das Seminar war etwa zur Hälfte herum, als furchtsam an die Tür geklopft wurde. Stoner, der gerade eine wichtige Lateinpassage frei übersetzte, hörte nichts. Nach wenigen Augenblicken ging die Tür auf, und ein kleiner, rundlicher Mann mittleren Alters mit randloser Brille kam auf Zehenspitzen herein und tippte Stoner leicht auf die Schulter.
(Fortsetzung folgt)