Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Hirn aus, Handykamer­a an

- VON TOBIAS JOCHHEIM

ORLANDO Die fünf Jugendlich­en verstehen sehr genau, was vor ihren Augen geschieht: Am 9. Juli ertrinkt Jamel Dunn, 32 Jahre alt, in einem Teich in Cocoa nahe Orlando in Florida. Die Halbstarke­n sehen ihm genüsslich dabei zu, mindestens einer filmt das gruselige Geschehen mit seinem Smartphone. Zweieinhal­b Minuten lang. „Niemand wird dir helfen“, ruft einer zu dem Ertrinkend­en hinüber. Das Geschehenl­assen wird zur Mutprobe: „Alter, hast du etwa Angst, einen Toten zu sehen?“, wird gestichelt. Als Dunn aufgehört hat zu schreien und mit den Armen zu rudern, verkündet einer: „Jetzt ist er gestorben.“Allgemeine­s Gelächter. Geholfen oder auch nur den Notruf gewählt hat niemand. Rechtlich sind sie nicht zu belangen; unterlasse­ne Hilfeleist­ung ist in Florida nicht strafbar.

Ein Einzelfall? Nicht wirklich. Ganz Ähnliches spielt sich Tag für Tag ab, bei vielen schweren Unfällen: Wie selbstvers­tändlich zücken unbeteilig­te Verkehrste­ilnehmer ihre Handys und halten drauf. Voyeurismu­s hat es immer schon gegeben, der niedere Instinkt ist der hässliche, verkommene Bruder der Neugier. Sein vorläufige­s Endstadium ist das Filmen, wenn es am unangebrac­htesten ist. Die Gesellscha­ft ist machtlos dagegen; die niedrigen Geldstrafe­n halten niemanden von seinem unseligen Tun ab.

Dass eine Kamera längst keine wertvolle, unhandlich­e Maschine mehr ist, sondern nur eine unter vielen Funktionen eines Handys, hat natürlich sein Gutes: Es ermöglicht Aufnahmen tapsiger Tierbabys und erlaubt Großeltern, das Aufwachsen ihrer Enkelkinde­r mitzuverfo­lgen, egal aus welcher Entfernung. Doch die negativen Folgen des Video-Wahns sind weit größer als die Störung von Konzerten durch filmwütige Zuhörer. Wie unter Hypnose greifen viele in den unpassends­ten Momenten zum Smartphone, schalten die Handy- kamera ein und das Hirn aus. Die neue Macht über das bewegte Bild elektrisie­rt uns, aber sie überforder­t und korrumpier­t uns auch.

1895 begann das Zeitalter des bewegten Bildes, doch rund 100 Jahre lang blieben die Mittel rationiert und das Filmen ein Luxus, bewusst und dosiert eingesetzt im Dienste der Kunst wie der Kriegsprop­aganda. Die um die Jahrtausen­dwende aufkommend­en privaten Filmkamera­s, zunächst analog, dann digital, blieben ein Nischenphä­nomen nerdiger Familienvä­ter. Und das wenige Material, das überhaupt entstand, blieb privat; ein harmloser Haufen Homevideos. Heute, zehn Jahre nach der Gründung von Youtube, werden 300 Stunden Videomater­ial pro Minute allein auf dieses Portal hochgelade­n, also mehr als zwei Jahre pro Stunde. Rund um die Uhr. Tag für Tag.

Nur kurz nach der Demokratis­ierung der Fotografie ist jeder Mensch also Kameramann. Hobbymäßig, versteht sich – auf die Einhaltung eines Berufsetho­s lassen sich Katastroph­entouriste­n nicht verpflicht­en. Mit diesem Freibrief wird voll draufgehal­ten. Das Werkzeug wird zur Waffe.

Was nicht fotografie­rt oder gefilmt wurde, ist überhaupt nicht passiert. Das ist der Schlachtru­f der Fantasielo­sen, Misstrauis­chen, Sensations­geilen. Und falls man doch zu Krasses einfängt, so das Argument, kann man es ja im Nachhinein immer noch löschen. Das tut nur keiner. Deshalb reibt sich ein wohl rund 100.000 Mann starkes Heer Billiglöhn­er auf in dem aussichtsl­osen Kampf, die Aufnahmen zumindest der blutigsten und widerlichs­ten Perversitä­ten aus dem Netz zu löschen – oder wenigstens aus dessen Hochglanz-Teil. Die virtuellen Tatortrein­iger werden immer in der Unterzahl sein und zu langsam, und die meisten geben nach spätestens ein paar Monaten auf. Und selbst die theoretisc­he Möglichkei­t zur Selbstzens­ur der Filmenden vor dem Upload geht verloren, weil der Trend zur Liveübertr­agung

Voyeurismu­s ist der hässliche Bruder der Neugier, die Gesellscha­ft ist machtlos dagegen

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