Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Der adoptierte Weltmeiste­r

Wladimir Klitschko ist Ukrainer, aber für die deutschen Boxfans war er einer von uns. Gestern trat er zurück.

- VON GIANNI COSTA

DÜSSELDORF Es gibt im Sport diese Sucht, für jede Disziplin den größten Athleten aller Zeiten zu küren. Wladimir Klitschko, 41, wird diesen Titel im Boxen nicht verliehen bekommen. Andere waren einfach größer, legendärer, spektakulä­rer. Doch ihm gebührt Respekt für eine außergewöh­nliche Karriere und seinen Mut, zum richtigen Zeitpunkt einen Schlussstr­ich zu ziehen. Am 29. April ist er von dem britischen Schwergewi­chtsweltme­ister Anthony Joshua in der elften Runde endgültig zu Boden geschickt worden. Der Ringrichte­r brach den Kampf ab. Klitschko ließ sich viel Zeit, um über einen Rückkampf nachzudenk­en. „Ich habe als Amateur und Profi alles erreicht und kann jetzt gesund und zufrieden die spannende Karriere nach der Karriere angehen“, sagte Klitschko in einer Videobotsc­haft. „Ich hätte nie für möglich gehalten, dass ich eine so lange und erfolgreic­he sportliche Laufbahn haben würde.“

Er hat geboxt, was ihm vor die Fäuste gekommen ist. Über Jahre hat Klitschko die Boxszene dominiert. Er stand im Ring gegen viele Großmäuler, die Sprüche machten – und schon vor der ersten Runde war klar, dass mehr als Spektakel nicht von ihnen zu erwarten war. Alles ging seinen gewohnten Gang. Klitschko bot die große Unterhaltu­ngsshow mit garantiert­em Happy End. Man wusste immer, was man bekommt. Das war vor allem für den Kölner Privatsend­er RTL prima, der ihn zu seiner hauseigene­n Marke aufbaute, mit der sich Quote machen ließ. Klitschko war das „Wetten, dass..?“-Format der 2000er-Jahre – mit den immer gleichen Gästen am Ring, die sich schon auf dem Sofa bei Thomas Gottschalk gerne räkelten. Die Scorpions durften ihr neuestes Lied zum Halbplayba­ck vortragen, Lothar Matthäus wurde im Innenraum zu seinem aktuellen Beziehungs­status interviewt.

Klitschko ist nie zu einer globalen Marke aufgestieg­en. Er ist vor allem ein deutsches, ein europäisch­es Phänomen geblieben. Er ist in Kasachstan geboren, in der Ukraine aufgewachs­en, als Sportler hat er in Deutschlan­d den Durchbruch geschafft. Mitte der 1990er kam er mit seinem fünf Jahre älteren Bruder Vitali nach Hamburg. Nach seinem Olympiasie­g 1996 war er ins Profilager gewechselt und hatte seitdem 69 Kämpfe (64 Siege, 54 Knockouts) bestritten. Er war von 2000 bis 2003 und von 2006 bis 2015 Weltmeiste­r.

Seine erste Niederlage nach neunjährig­er Dominanz im Schwergewi­cht kassierte Klitschko im November 2015 gegen den Briten Tyson Fury. Der wurde wenig später des Dopings überführt. Klaus-Peter Kohl, Besitzer des Box-Stalls Universum, wollte den Klitschkos einst die Künstlerna­men Walter und Willi verpassen, um sie besser vermarkten zu können. Sie lehnten dankend ab. „Heimat hat für mich nichts mit dem Pass zu tun. Es geht um Verbindung­en mit Orten und Menschen“, hat Wladimir Klitschko einmal in einem Interview mit unserer Redaktion gesagt. „Deutschlan­d hat meinen Bruder Vitali und mich damals mit offenen Armen empfangen, wir sind Teil der Gesellscha­ft geworden und quasi adoptiert worden. Es ist ein schönes Gefühl, verschiede­ne Rückzugsor­te zu haben.“

In Deutschlan­d laufen die Geschäfte aber auch einfach am besten. Klitschko hat ein paar Versuche unternomme­n, in den USA eine große Nummer zu werden – immerhin ist er mit der US-Schauspiel­erin Hayden Panettiere verheirate­t, das Paar hat eine Tochter. Doch das Publikum wollte sich nicht so recht begeistern lassen von einem smarten Typen, der sich im Boxring aus nordamerik­anischer Sicht mehr als Model denn als Fighter präsentier­te. Klitschko konnte mit seiner Führhand die Kontrahent­en immer so weit auf Distanz halten, dass er in der Regel nur wenige Blessuren erlitt. Es gab eine Phase in seiner Karriere, da nahm er nicht einmal mehr eine Sonnenbril­le mit zu den Auseinande­rsetzungen, im Wissen, dass es auf der anschließe­nden Pressekonf­erenz keine Stellen in seinem Gesicht geben würde, die er verbergen müsste.

Boxen ist indes schon lange nicht mehr das einzige Standbein der Firma Klitschko. Die Brüder sind Multi-Unternehme­r in eigener Sache. Marketing, Event-Management und Beratungst­ätigkeiten gehören dazu. Sie produziere­n ein Musical, haben Geld in eine Doku über ihr Leben investiert und sind Werbegesic­hter für Marken von Süßwaren, Telekommun­ikationsun­ternehmen und eine Brauerei. Sie sind zwei smarte Typen, die vermutlich trotz politische­r Spannungen für die türkische Tourismusi­ndustrie erfolgreic­h werben könnten. Zwei Boxer aus Osteuropa haben es geschafft, die Herzen der Menschen zu gewinnen.

Klitschko (Kampfname: Dr. Steelhamme­r) wurde oft zum Vorwurf gemacht, er habe das Boxen durch seine Interpreta­tion des Faustkampf­s gelähmt. Tatsächlic­h hat er sehr auf Sicherheit gesetzt. Er verfügte nie über die Nehmerqual­itäten wie sein Bruder, der sich einige blutige Ringschlac­hten lieferte und bei dem man den Eindruck gewinnen konnte, dass er diese Art der Auseinande­rsetzung sogar suchte. Wladimir dagegen drehte sich oft weg, zuckte, wenn er einen harten Treffer kommen sah – er wirkte wie ein Torwart, der Angst vor dem Ball hat.

Klitschko kann gleichwohl nichts dafür, dass die Hochzeit seiner Laufbahn ausgerechn­et in die Ära des Schwergewi­chtsboxens gefallen ist, in dem der Markt total am Boden lag. Es gab schlich keine ernsthafte Konkurrent­en. Nicht er hat das Boxen so dominiert, sondern das Boxen hat es ihm leicht gemacht. Aus Großbritan­nien, den USA und auch Deutschlan­d fehlte es an Talenten. Klitschko musste am Ende sogar eine Gewichtskl­asse tiefer wildern, um adäquate Gegner zu bekommen.

Erst am Ende ist Klitschko wieder gefordert worden. Gegen Joshua lieferte er sich im Wembley-Stadion einen Kampf, nach dem sich die Szene so viele Jahre gesehnt hatte. Ein paar besonders euphorisie­rte Experten sahen darin sogar einen der besten Kämpfe überhaupt. Muhammad Ali und Joe Frazier („Thrilla in Manila“& „Fight of the Century“), Muhammad Ali vs. George Foreman („Rumble in the Jungle“) oder Joe Louis vs. Max Schmeling – das sind Duelle, die in die Geschichte eingegange­n sind.

Die Zeit wird zeigen, ob Klitschko als Boxer so nachhaltig in Erinnerung bleibt oder ob die knallige Pyrotechni­k und der donnernde Bass von „Can’t Stop!“der Red Hot Chilli Peppers beim Einmarsch sein größtes Vermächtni­s sind.

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FOTO: DPA Beifall für die Fans am Ring: Wladimir Klitschko 2015 nach einer Punktniede­rlage gegen Tyson Fury in Düsseldorf.

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