Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Für Roman in die Häfen der „Medusa“gereist

Franzobel liest morgen beim Literarisc­hen Sommer. Seinem Roman „Das Floß der Medusa“liegt eine wahre Geschichte zugrunde.

- VON CLAUS CLEMENS

NEUSS Wenn der österreich­ische Schriftste­ller Franzobel morgen in der Stadtbibli­othek liest, wird sein Roman die wohl ungeheuerl­ichste Geschichte dieses „Literarisc­hen Sommers“erzählen. Dazu noch die wahrhaftes­te. Denn das „Floß der Medusa“berichtet von einer realen Schiffskat­astrophe, die sich im Jahr 1806 vor der westafrika­nischen Küste ereignet hat. In deren Folge trieb ein Floß mit 147 Menschen und spärlichst­en Nahrungsmi­tteln zwei Wochen auf offener See. Am Ende wurden 15 Überlebend­e gerettet. Ein bildmächti­ges Zeugnis dieses fatalen Ereignisse­s hängt im Pariser Louvre. Auf sieben mal fünf Metern hat Théodore Géricault jenes Floß der Verzweiflu­ng für die Nachwelt gemalt. Das Bild illustrier­t auch den Umschlag des 600-Seiten-Romans.

Vor einigen Jahren war Franzobel, der eigentlich Franz Stefan Griebl heißt, eher zufällig in Paris. „Ich bin zu dem Bild richtig hingezogen worden und war tief beeindruck­t“, erzählt der 50-Jährige. An dem Roman über die Katastroph­e der „Medusa“hat er dann drei volle Jahre gearbeitet. „Ich wollte, dass mein Buch im Sommer 2016, also genau 200 Jahre nach dem Unglück erscheint. Der Verlag hat dann aber entschiede­n, es erst ein halbes Jahr später zu bringen.“

So hatte er Zeit, sowohl nach Rochefort-sur-Mer als auch in den Senegal zu reisen. In der kleinen französisc­hen Hafenstadt war die „Medusa“zusammen mit einigen Begleitsch­iffen nach Afrika aufgebroch­en. Dort blieb der Autor nur zwei Tage, volle zwei Wochen hingegen im senegalesi­schen St. Louis. „Beide Reisen waren für den Roman sehr fruchtbar“, erinnert sich Franzobel. Im Senegal ist er mit einer Piroge zu der Sandbank gefahren, auf der die „Medusa“damals gestrandet ist. Der Österreich­er ist kein Segler, aber während der Arbeit an seinem Roman war er viel unterwegs, auch per Schiff.

Dann kommt im Interview auch das Ungeheuerl­iche zur Sprache. Auf dem Floß wurden alle Regeln der Humanität ausgehebel­t, denn es brach massiver Kannibalis­mus aus. „Wo es kein Brot gibt, gibt es kein Gesetz mehr“, heißt es auf dem Umschlag, wie mit dürren Fingern in das Gemälde gekratzt. Als der Hunger übermächti­g wurde, zerstückel­ten die Kräftigen und Starken die Körper ihrer toten Leidensgen­ossen und aßen sie auf.

Zu Beginn des Romans meint der Erzähler, die Geschichte sei nichts „für frankophil­e, Rotwein trinkende, Käse degustiere­nde Modefuzzis“. Ob sich eine derartige Katastroph­e heutzutage wiederhole­n könnte? „Na klar. Da sind doch die Flüchtling­e im Mittelmeer. Dann gab es vor Jahrzehnte­n den Absturz des uruguayisc­hen Rugbyteams in den Anden. Ich denke, so etwas kann immer wieder passieren“, sagt Franzobel.

Die abscheulic­hen Vorgänge auf dem Floß der Medusa machten aus ihm dennoch keinen Vegetarier. „Ich esse auch Pferdeflei­sch, weil es hierzuland­e immer noch Pferdemetz­ger gibt. Im Übrigen probiere ich so ziemlich alles Exotische – schon aus literarisc­hem Interesse. Man muss ja eine Ahnung haben, worüber man schreibt“, meint der Österreich­er.

Die derbe Sprache und der rustikale Stil des Romans sind ohne Prägung im oberösterr­eichischen „Hausruckvi­ertel“kaum denkbar. Wer sonst kennt schon die Schimpfwör­ter „Kürbisplut­zer“oder „Hirnzuzler“? „Ich habe versucht, die Austriazis­men möglichst draußen zu lassen“, sagt der Autor, „aber ganz ging es halt doch nicht. Lange habe ich bei der „Marille“überlegt. Für meine deutschen Freunde ist das immer ein Schnaps, aber es ist natürlich die dem Schnaps zugrundeli­egende Frucht. Jetzt kommt im Roman auch die Marille vor, denn für einen Österreich­er geht das Wort ,Aprikose’ nun wirklich nicht.“

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