Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

2773 Gymnasiast­en scheitern nach zwei Jahren

Nach Klasse 6 ist für viele Schüler Schluss. Die Quote der Kinder in NRW, die das betrifft, steigt. Sie wechseln meist an die Realschule­n. Eltern sind besorgt, die Gymnasien fordern bessere Auswahl.

- VON JAN DAFELD UND FRANK VOLLMER

DÜSSELDORF In NRW ist in den vergangene­n fünf Jahren die Zahl der Schüler deutlich gestiegen, die nach der Erprobungs­stufe das Gymnasium verlassen. 2016 wechselten nach Angaben des Schulminis­teriums 2773 Jungen und Mädchen nach Klasse 6 an eine andere Schulform, 27 Prozent mehr als fünf Jahre zuvor. Weil zugleich die Gesamtzahl der Schüler sank, stieg die Wechslerqu­ote von 3,3 auf 4,5 Prozent. Die meisten der Wechsler wurden zugleich in die siebte Klasse versetzt; nur 2,5 Prozent sind Sitzenblei­ber.

Vor 2011 waren die Zahlen deutlich gefallen, so dass inzwischen wieder der Stand von vor zehn Jahren erreicht ist. Der Anstieg fällt zusammen mit der Abschaffun­g der verbindlic­hen Grundschul­gutachten 2010 durch die rot-grüne Landesregi­erung. Seither entscheide­n in letzter Instanz die Eltern, welche Schule ihr Kind besucht.

In unserer Region ist der Anstieg noch stärker: 29,6 Prozent mehr Schüler verließen das Gymnasium. Das geht aus Zahlen hervor, die der Landesbetr­ieb IT NRW für unsere Redaktion zusammenge­stellt hat. In Geldern, Leverkusen und Mönchengla­dbach haben sich die Wechsler-Zahlen sogar verdoppelt; in Düsseldorf und Dormagen stiegen sie um zwei Drittel.

Das Schulgeset­z formuliert als Ziel, während der Erprobungs­stufe, also in den Klassen 5 und 6, „die Entscheidu­ng über die Eignung der Schüler für die gewählte Schulform sicherer zu machen“. In Klasse 6 gehen noch alle Schüler ohne Versetzung über. Erst danach besteht also die erste echte Gelegenhei­t zu einer Zwischenbi­lanz. Die Entscheidu­ng über den Wechsel eines Schülers liegt bei der Klassenkon­ferenz, also den unterricht­enden Lehrern.

Der weitaus größte Teil derer, die das Gymnasium dann verlassen, wechselt an die Realschule – in unserer Region gut 70 Prozent. 19 Pro- zent wechseln zur Gesamt-, knapp neun Prozent zur Sekundarsc­hule, weniger als zwei Prozent an die Hauptschul­e. Der Trend zur Realschule ist in den Großstädte­n noch stärker – in den 25 größten Städten des Landes wechseln sogar 81 Prozent an diese Schulform; Gesamtund Sekundarsc­hule kommen hier zusammen nur auf gut 17 Prozent. Das dürfte daran liegen, dass in den Städten noch viele Realschule­n erhalten geblieben sind, während sie in ländlichen Gebieten häufig zugunsten von Gesamt- oder Sekundarsc­hulen aufgegeben wurden.

Elternvert­reter sehen die Entwicklun­g mit Sorge. Von einer „Fehlleitun­g der Schüler“spricht etwa Johannes Papst, Vorsitzend­er der Landeselte­rnschaft der Realschule­n. Viele Eltern könnten sich für ihr Kind überhaupt nur noch eine gymnasiale Bildung vorstellen, auch weil die Realschule „systematis­ch schlechtge­redet“worden sei.

Papst kritisiert­e auch die Gymnasien: „Viele Schulleite­r haben dieses Spiel mitgespiel­t, ohne ihrer Verantwort­ung gerecht zu werden, genau hinzuschau­en, ob diese Kinder alle am Gymnasium richtig aufgehoben sind.“Zwar nähmen die Realschule­n gern Wechsler vom Gymnasium auf – es sei aber nicht sinnvoll, „dass ganze Jahrgangss­trukturen noch einmal komplett verändert werden“. Die 57 Schüler, die zum Beispiel zuletzt in Mönchengla­dbach vom Gymnasium zur Realschule wechselten, entspreche­n rechnerisc­h einer halben neuen Klasse an jeder der vier Realschule­n vor Ort.

Papst will das Thema in den Gesprächen mit der neuen Schulminis­terin Yvonne Gebauer (FDP) „ganz oben auf die Tagesordnu­ng“setzen. Gebauer selbst sagte: „Wir werden darüber reden müssen, ob am Gymnasium manche Kinder überforder­t sind.“Das habe auch mit „mangelnder gesellscha­ftlicher Anerkennun­g für andere Abschlüsse als das Abitur“zu tun: „Wir müssen weg vom Akademisie­rungswahn.“Es gehe nun darum, Eltern besser bei der Wahl der weiterführ­enden Schule zu beraten.

Auch die Schulleite­r sehen Handlungsb­edarf. Zwar lasse sich aus den Grundschul­gutachten immer noch viel herauslese­n, sagte Ingrid Habrich, Vorsitzend­e der Rheinische­n Direktoren­vereinigun­g: „Trotzdem müssen wir überlegen, wer ans Gymnasium kommt.“Eine Lösung könne etwa Probeunter­richt für Interessen­ten sein – der wurde 2010 abgeschaff­t. „Und wir müssen“, ergänzte Habrich, „Kinder auch nach Leistung abweisen dürfen, wenn wir zu viele Anmeldunge­n haben.“Bisher geht das nicht – es zählen Kriterien wie das Geschlecht­erverhältn­is, die Geschwiste­rkinder an der Schule oder der Wohnort.

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