Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Umarmen und Händeschütteln sind verboten
Das Norovirus beeinträchtigt die Vorbereitung und die Wettkämpfe der Athleten bei den Titelkämpfen in London.
LONDON (klü) Halbzeitbilanzen bei einer Weltmeisterschaft sind selten ein Quell ungeteilter Freude für die Verantwortlichen des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV). Da bilden die Titelkämpfe von London keine Ausnahme mit bislang nur einer Medaille, der silbernen von Siebenkämpferin Carolin Schäfer. Doch so sehr diese WM vorangegangenen zu ähneln scheint, ist sie dennoch außergewöhnlich. „Es ist eine WM, wie wir sie noch nie erlebt haben“, sagt Idriss Gonschinska, Sportlicher Leiter des DLV. Was er meint: Das deutsche Team hat nicht nur mit sich und der Konkurrenz zu kämpfen, sondern vor allem mit einem Norovirus, der in allen offiziellen Athleten-Hotels grassiert.
13 Fälle hat das medizinische Team des DLV seit Freitag verzeichnet, sieben Athleten und sechs Betreuer. Aktuell sind noch zwei Athle- ten und ein Betreuer betroffen. Eine Athletin musste auf ihren WM-Start verzichten. Zunächst sei man von einer ernährungsbedingten MagenDarm-Erkrankung ausgegangen, erklärt Andrew Lichtenthal, leitender DLV-Verbandsarzt. „Ab Sonntag war dann klar, dass es sich um das Norovirus handelt.“Diese Gewissheit wirft seitdem vieles über den Haufen, was sich der DLV für seine Athleten an Maßnahmen während der WM überlegt hatte. Denn das britische Gesundheitsrecht schreibt in solchen Fällen zwingend eine 48-stündige Quarantäne vor.
Die Hygienestandards wurden drastisch erhöht. Händeschütteln, Umarmen. Alles verboten – inzwischen sogar per Dienstanordnung von Gonschinska. Das heißt: Wer sich nicht an die Hygienemaßnahmen hält, kann nach Hause fliegen. Physiotherapie ist für die Sportler in den betroffenen Athletenhotels eingestellt, Training ist eingeschränkt, Staffeltraining gibt es gar nicht mehr. „Inzwischen steht nicht mehr der Sport im Vordergrund, sondern der Athlet sowie das Ziel, eine Ausbreitung des Virus’ zu verhindern“, sagt Lichtenthal. Idriss Gonschinska
Denn es sind nicht nur die Deutschen betroffen. Im Tower-Hotel an der gleichnamigen Brücke sind es inzwischen 30 Athleten. Am Dienstagabend hatte der Weltverband Isaac Makwala aus Botswana wegen der Erkrankung vom 400-m-Finale ausgeschlossen. Schon am Montag musste er auf den Vorlauf über 200 Meter verzichten. Trotz Quarantäne kam er am Dienstag ins Stadion, wo er dann zurückgeschickt wurde. Gestern durfte Makwala den Vorlauf ganz alleine nachholen und qualifizierte sich doch noch fürs Finale.
Gonschinska spricht angesichts der Umstände von „Schadensbegrenzung“und davon, dass man „natürlich unter anderen Voraussetzungen hierhin gefahren“sei. Statt bis zuletzt an perfekter Wettkampfvorbereitung zu tüfteln, sind die Verantwortlichen nun stundenlang damit beschäftigt, jetzt anreisende Athleten auf nicht betroffene Unterkünfte zu verteilen. Ein Projekt, das sich als schwierig erweist, schließlich strotzt London während der WM nicht gerade vor leeren Hotelbetten. Die Sieben- und Zehnkämpfer haben Glück: Sie sind ohnehin in einem Hotel nahe am Stadion untergebracht, und die Speerwerfer wurden als größte Medaillenhoffnungen sofort umquartiert.
Doch Gonschinska will sich allen Noroviren zum Trotz nicht um eine Halbzeitbilanz drücken. Das ist ihm wichtig. „Natürlich ist das alles zu relativieren, aber wir haben eine Bilanz, die gar nicht so weit von dem abweicht, was wir erwartet haben“, sagt er. „Schließlich sind wir im ersten Jahr eines Neuaufbaus Richtung Olympia 2020.“Die aussichtsreichsten Medaillenjäger kämen zudem ja noch: die Speerwerfer, die Zehnkämpfer und die 4x100-m-Staffel der Frauen. „Wenn wir denn eine Staffel zusammen bekommen“, sagt Gonschinska.
Und so werden sie beim DLV die WM von London wohl mit einem Sternchen in ihre Geschichtsbücher und Statistiken eintragen. Der Hinweis im Kleingedruckten könnte lauten: Das war die mit dem Virus.
„Es ist eine WM, wie wir sie noch nie erlebt haben“ Sportlicher Leiter des DLV