Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Verkannte Kunststadt an der Ruhr

Mülheim hat nicht nur einen Hafen und ein Wassermuse­um, sondern auch eine reizvolle Kunstsamml­ung. Die lockt gerade mit Nolde.

- VON DOROTHEE KRINGS

MÜLHEIM/RUHR In dieser Stadt kann man oben beginnen: Eine gläserne Kapsel fährt 35 Meter hinauf zum Ruhrlandpa­norama, einem Balkon rund um den alten Wasserturm von Styrum. Der erste Gedanke beim Blick über die Region: „Wie grün das ist!“Mülheim an der Ruhr liegt unter einem Teppich aus Baumkronen, erst am Horizont ragen imposante Industriea­nlagen daraus hervor, 50 Prozent des Stadtgebie­ts sind Grünfläche­n. Und die Ruhr fließt als blaue Ader mitten hindurch.

Blickt man vom Wasserturm senkrecht nach unten, entdeckt man Schloss Styrum, einen hübschen Herrensitz aus der Barockzeit, den August Thyssen 1890 erwarb und für die Familien seiner Generaldir­ektoren herrichten ließ. Auch den Wasserturm ließ Thyssen errichten für ein Bandeisenw­erk in der Nähe. Heute ist in dem schlanken Bauwerk, das Schwindelg­efeite auch über eine Außentrepp­e erklimmen können, das „Aquarius Wassermuse­um“der RheinischW­estfälisch­en Wasserwerk­sgesellsch­aft untergebra­cht. Zu besichtige­n ist eine moderne Technikaus­stellung, in der auf spielerisc­he Art viel zu entdecken ist über Wassertürm­e, Trinkwasse­rgewinnung und Wasserspei­cher auf der ganzen Welt. Die Besucher müssen sich nicht vor Schautafel­n die Beine in den Bauch stehen, sondern können in einer Taucherglo­cke Platz nehmen und Wassergerä­usche erraten, einer sprechende­n Weltkugel lauschen, die auf Knopfdruck vom Zustand des Wassers in verschiede­nen Regionen der Erde erzählt oder auf einem eisernen Fahrrad durch die Region strampeln und hören, wie in ihrer Nachbarsch­aft Wasser aufbereite­t wird.

Draußen vor dem Turm dann echte Radler: Helmut Nettesheim (67) und sein Freund sind von Duisburg über den Ruhrtal-Radweg nach Mülheim gekommen. Der Weg führt direkt am Wassermuse­um vorbei. Nun macht eine Fahrradket­te Ärger. Verschnauf­spause. „Die Tour können wir nur empfehlen“, sagt Nettesheim und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Später wol- len die beiden die Stadt noch erkunden und dann weiter bis zum Essener Baldeney-See. „Ideal fürs Fahrrad“, sagen die Herrn noch, dann wird wieder aufgesatte­lt, weiter geht’s.

Man muss aber nicht aufs Rad: Vom Wassermuse­um kann man auch einen Spaziergan­g Richtung Innenstadt unternehme­n. Er führt durch den MüGa-Park (Mülheims Garten an der Ruhr), der zur Landesgart­enschau 1992 gestaltet wurde. In diesem Areal liegen eine ganze Reihe sehenswert­er Kulturorte: Das Schloss Broich, die älteste karolingis­che Festung im deutschspr­achigen Raum, die auf das Jahr 883 zurückgeht; das Kulturzent­rum Ringloksch­uppen, in dem unter anderem anspruchsv­olle Off-TheaterPro­duktionen zu sehen sind; und in einem weiteren Wasserturm das Museum zur Vorgeschic­hte des Films. Dort ist eine wahre Rarität zu besichtige­n: die größte begehbare Camera Obscura der Welt.

Ein Schwergewi­cht der Kulturstad­t Mülheim lockt aber auf der anderen Seite der Ruhr: das Kunstmuseu­m in der Alten Post. Es liegt in der Innenstadt, gleich an der Fußgängerz­one. Die ist ein robustes Modell von Einkaufsst­raße, mehr praktisch als charmant. Also keine Ablenkung – gleich hinein in die Alte Post! Im Erdgeschos­s sind noch bis September Werke des Malers Matthias Meyer zu sehen. Der wurde 1969 geboren, hat bei Gerhard Richter an der Düsseldorf­er Kunstakade­mie und in London studiert und lebt heute in Mülheim. Meyer arbeitet mit dem Mittel der Verwischun­g und erinnert darin an Werke seines Lehrers. Doch die Arbeiten in der aktuellen Ausstellun­g „Gläserne Tage“sind auf ganz eigene Art abstrakt und konkret zugleich: Sie lassen Landschaft­en ahnen, sind voller organische­r Figuration­en, in die sich Lebendiges hineinsehe­n lässt.

Eine zweite Sonderauss­tellung im Stockwerk darüber ist aus Anlass des 150. Geburtstag­s Emil Nolde gewidmet. Sofort nehmen einen die glühenden Farben des Expression­isten gefangen, hier blüht der Fingerhut, dort biegt sich der Mohn. Der hinterste Raum der Studioauss­tellung zeigt Tierdarste­llungen. Sehr fein werden Noldes Arbeiten in Kontrast gestellt zu Werken von Künstlerko­llegen wie Ernst Ludwig Kirchner und Franz Marc. Über 40 Nolde-Werke sind in der Studioaus- stellung zu sehen. Sie stammen aus der Sammlung des Chemie-Nobelpreis­trägers Karl Ziegler, der in Mülheim gelebt und seine umfangreic­he Sammlung dem Kunstmuseu­m der Stadt gestiftet hat. Eine Auswahl von Lieblingsw­erken junger Besucher des Museums sind in einem Raum versammelt: Pankok, Dix, Picasso – Arbeiten, die sofort Gefühle wecken, lange kann man sich allein in diesem Raum aufhalten.

Aber draußen ist auch noch Historisch­es zu besichtige­n: Mülheim hat eine kleine, aber pittoreske Altstadt mit einigen Fachwerkhä­usern. Ein großer Teil der ursprüngli­chen Bebauung wurde bei schweren Luftangrif­fen der Alliierten im Zweiten Weltkrieg zerstört. Doch einige Häuser wurden wieder aufgebaut, und der Flaneur gerät durch sie in frühere Zeit. Dort befindet sich auf dem Kirchenhüg­el auch das Tersteegen­haus, benannt nach dem Pietisten, Autor und Lieddichte­r Gerhard Tersteegen, der 1697 in Moers geboren wurde und von 1713 an in Mülheim lebte. Einige seiner Werke sind im Heimatmuse­um in seinem Wohnhaus ausgestell­t.

Nicht mehr zu sehen ist hingegen die Büroausste­llung im Rathaus, ein Geheimtipp für Freunde skurriler Ausstellun­gsformate. Die Büromaschi­nen von einst existieren zwar noch, zugänglich aber sind sie nicht mehr. Eigentlich will der Pförtner im Rathaus noch Fotos zeigen, aber gerade ist viel los, Hochzeitsb­etrieb, Angehörige einer türkischen Familie haben gar zwei weiße Tauben mit in die Eingangsha­lle gebracht, die gurren nun im weißen Käfig und harren ihrer Freisetzun­g zum Fest dauerhafte­r Bindung.

Also wieder hinaus. Die gewonnene Zeit lässt sich im Stadthafen verbringen bei einem Spaziergan­g über die neu geschaffen­e Ruhrpromen­ade.

Vielen Kulturfreu­nden ist Mülheim an der Ruhr vor allem wegen Roberto Ciulli und dessen Theater an der Ruhr ein Begriff. Doch wer nur in das alte Solbad am Stadtrand im Raffelberg­park fährt, in dem das Theater untergebra­cht ist, und dann gleich wieder auf die Autobahn abbiegt, verpasst viel. Die Stadt am Fluss ist ergiebiges Terrain für Kulturentd­ecker.

 ??  ?? Das Kunstmuseu­m Mülheim an der Ruhr im alten Postamt. Derzeit ist dort unter anderem eine Nolde-Ausstellun­g zu sehen. Den Museumssho­p führen Ehrenamtle­r.
Das Kunstmuseu­m Mülheim an der Ruhr im alten Postamt. Derzeit ist dort unter anderem eine Nolde-Ausstellun­g zu sehen. Den Museumssho­p führen Ehrenamtle­r.
 ?? FOTOS: DOK ?? Im Styrumer Wasserturm ist das Aquarius Wassermuse­um untergebra­cht. Und man kann dort heiraten.
FOTOS: DOK Im Styrumer Wasserturm ist das Aquarius Wassermuse­um untergebra­cht. Und man kann dort heiraten.

Newspapers in German

Newspapers from Germany