Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Russlandpo­litik nach Genschers Vorbild

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Wenige Monate vor seinem Tod im März 2016 hat die Außenminis­ter-Legende Hans-Dietrich Genscher im Magazin der „Süddeutsch­en Zeitung“einen Neustart der Beziehunge­n zwischen Deutschlan­d beziehungs­weise der Europäisch­en Union und Russland gefordert. In dem Zusammenha­ng geißelte der einstige Bonner Chefdiplom­at die wieder um sich greifende Politik der Konfrontat­ion nach der Devise „Wer ist der Stärkere? Wer hat das Sagen?“Nichts anderes hat vor Kurzem der FDP-Vorsitzend­e Christian Lindner zu bedenken gegeben. Es ist nicht die schlechtes­te Übung, wenn sich ein nachgewach­sener Politiker gedanklich und argumentat­iv auf die Schultern eines Altmeister­s der Außen- und Friedenspo­litik stellt.

Erwartungs­gemäß wurde Lindner als „Putin-Versteher“bewusst missversta­nden. Es ist Wahlkampf, da sind List und Tücke bei allen Parteien das beliebtest­e Geschwiste­rpaar.

Die deutsch-russischen Beziehunge­n sind schlecht. Die Mehrheit der Deutschen hält das ihrerseits für schlecht – und liegt richtig damit.

Wer es dagegen gut meint mit Deutschlan­d und mit Europa, der wird Genscher und Lindner nicht widersprec­hen bei deren Plädoyer für eine Politik der Deeskalati­on gegenüber Russland; und der wird auch, wie es neulich der extroverti­erte baden-württember­gische Trigema-Mittelstän­dler Wolfgang Grupp in der „Wirtschaft­swoche“geschriebe­n hat, die verbreitet­e „Hetze gegen Putin“nicht für der Weisheit letzten Schluss halten.

Genscher, Lindner, Grupp und vermutlich eine Mehrheit der Landsleute repräsenti­eren außenpolit­ischen Realismus, der nicht moralinges­äuert und sich selbst fesselnd der Meinung ist, dass eine völkerrech­tswidrige Tat wie Putins Landnahme auf der Krim das fortan bestimmend­e Element der Politik gegenüber Russland sein sollte. Wir Deutsche erinnern uns, wie gut sich seit Willy Brandts Ostpolitik zu Beginn der 70er Jahre die politische­n und wirtschaft­lichen Beziehunge­n zu Moskau entwickelt hatten und wie geschickt und patriotisc­h zugleich 1989/90 von Bundeskanz­ler Helmut Kohl und dessen Außenminis­ter darauf aufgebaut worden ist.

Das internatio­nale politische Klima benötigt dringender denn je Entgiftung und nicht weitere Luftverpes­tung. Und mit Blick auf neu beschlosse­ne Sanktionen Washington­s gegenüber Russland, die ökonomisch­e Kollateral­schäden bei uns billigend in Kauf nehmen, gilt auch dieser Satz Hans-Dietrich Genschers aus seinem 2015 erschienen­en Vermächtni­s-Buch: „Wir sollten nicht nur mit dem Finger auf Putin zeigen. Es gab und gibt Kräfte in der transatlan­tischen Allianz, die die alte Teilung in Europa nicht überwinden, sondern lediglich nach Osten verschiebe­n wollen. Russland gehört in eine gesamteuro­päische Friedensor­dnung.“ Ihre Meinung? Schreiben Sie unserem Autor: kolumne@rheinische-post.de

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